Wir sitzen hier in Ihrem wunderschönen Bauernhaus in der Nähe des Irrsees nahe Salzburg.
Das Haus wird erstmals im Jahr 1680 erwähnt. Und 1883 wurde die Bahn gebaut. Der Kaiser hat damals gesagt, er will nach Bad Ischl fahren mit dem Zug. Hier in der Nähe, in Straßwalchen, wollte er aussteigen. Aber er stieg nicht aus, blieb nur am Fenster stehen, hat gewunken und ist wieder weitergefahren.

Der Kaiser starb 1916, die Erste Republik kam 1918, und 20 Jahre später kam der Schicklgruber, wie ihn der Bockerer gerne genannt hat, nach Österreich.Ich war damals acht Jahre alt und ein ziemlicher Lausbub.

Ihr Vater war Feuerwehrmann.
Das wird immer so gesagt, stimmt aber nicht ganz. Er war bei der freiwilligen Feuerwehr. Bei der Werksfeuerwehr. Er hat in den Raxwerken gearbeitet, also in den Flugzeugwerken und dort gab es natürlich eine Feuerwehr. Mein Vater war Metalldreher, Facharbeiter. Und die Mutter war Weberin. In den 30er-Jahren war der Vater arbeitslos, da ist er nach Kapfenberg gegangen, hat dort Arbeit gefunden. 1937 ist er wieder zurück nach Wiener Neustadt. Bis der Hitler kam, also 1938, war der Vater dann wieder arbeitslos. Und viele waren halt froh, dass er gekommen ist, der Hitler, weil er brachte ja auch Arbeit mit. Mein Vater bekam auch sofort welche. In Wiener Neustadt war der größte Flughafen in Europa. Die Russen haben diesen Flugplatz nach dem Krieg natürlich sofort adaptiert. Da habe ich auch so meine Erlebnisse gehabt.

Welche denn?
Mein Freund Rudl und ich sind einmal auf das Flugfeld hinaus und hineingestiegen in zwei Russenflugzeuge. Im Cockpit gab es so kleine Uhren – die haben wir rausgeschraubt. Also gestohlen in Wahrheit.
Jetzt sind wir ungefähr im Jahr 1945. Ein gefährlicher Lausbubenstreich!
Ja, eh. Und natürlich wurden wir erwischt. Die Russen standen plötzlich mit den Puschkas vor uns. Wir wurden abgeführt zur Kommandantur, dort wild zusammengestaucht, aber wir haben eh nichts verstanden. Es ging glimpflich aus, wir wurden zum Holzschneiden verurteilt. Mich haben sie nach einer Stunde fortgelassen, aber der Rudl musste weiterarbeiten. Und er hatte so einen Durst und hat gerufen: „Wodka, Wodka.“ Und die Russen haben ihm tatsächlich Wodka gebracht. Er musste bis acht Uhr am Abend Holzschneiden und war, als er fertig war, total besoffen. Mit knapper Not hat er heimgefunden.

Wollen wir wieder zurück ins Jahr 1938 gehen?
Ja, gehen wir. Aber Sie müssen mich fragend leiten, denn ich verzettel mich in der Erinnerung oft und gehe dann leicht verloren.

Ihr Vater bekam also nach dem „Anschluss“ Arbeit. Welche politische Gesinnung hatte er?
Im Grunde war er neutral. Nein, nicht neutral, das stimmt nicht, denn er war seit 1914 Mitglied der Sozialistischen Partei. Und das ist er immer geblieben, ohne dass er es groß verkündet hat. Und nach dem Krieg hat er wieder die SPÖ gewählt – bis zu seinem letzten Tag. Ich komme also aus einer klassischen Arbeiterfamilie.

Wie hat Ihre Familie die Zeit des „Anschlusses“ erlebt?
Natürlich haben die Menschen auf dem Heldenplatz und sonst wo „Heil Hitler“ gebrüllt. Österreich war ja am Sand – und den Menschen wurde versprochen, dass alles besser wird. Gleich am Tag nach dem „Anschluss“ hatte mein Vater Arbeit, und darüber war er froh. Und weil er Facharbeiter war, musste er auch nicht zum Militär. In Wiener Neustadt gab es ja viele Fabriken. Und da haben nicht nur 500 Menschen Arbeit bekommen – das waren Tausende.

Karl Merkatz im Alter von zehn Jahren
Karl Merkatz im Alter von zehn Jahren © Privat

Probleme mit den neuen Machthabern hatte Ihr Vater nicht?
Nein, hatte er nicht, obwohl er nie Mitglied der NSDAP war.

Und wie ist es Ihnen selbst ergangen?
Ich hatte kein große Wahl, zur Hitlerjugend musste jeder gehen. Zuerst war man ein Pimpf, dann ging es zur HJ. Aber ich war damals auch Ministrant, das war mir lieber. Das Exerzieren und Schießen bei der HJ, das mochte ich überhaupt nicht. Und dann diese grässlichen Uniformen. Wir waren nicht so begütert, dass sich meine Eltern eine tadellose Uniform leisten konnten. Ich hatte so ein seltsames braunes Hemd, das mir meine Mutter zusammengeschneidert hat. Und die vielen Aufmärsche, die waren mir auch nicht sehr genehm. Einmal habe ich zu einem Fähnleinführer gesagt: „Ich mag nicht mehr kommen!“ Er hat geantwortet: „Du musst. Und wenn du nicht freiwillig kommst, holen wir dich.“ Und so war es dann auch. Einmal haben der Rudl und ich uns bei mir daheim unter der Küchenbank versteckt, da klopfte der Fähnleinführer plötzlich ans Fenster und brüllte: „Karl, wenn du nicht zum Heimabend kommst, stecken wir deinen Vater ins KZ.“ Das war natürlich schlimm. Denn der Rudl und ich ahnten, was ein KZ ist.

Warum wussten Sie das als Buben? Viele Erwachsene haben ja damals gemeint, sie hätten keine Ahnung, was das sei.
Im Haus, wo wir gelebt haben, wohnte auch der Herr Eller. Der saß gerne vor dem Haus und hat einen gebechert. Und einmal hat er laut geschrien: „Der Hitler ist ein Arschloch!“ Kurze Zeit später wurde der Herr Eller verhaftet, ein halbes Jahr später bekam die Frau Eller einen Brief. Man müsse ihr leider mitteilen, dass ihr Mann im Arbeitslager bei einem Unfall ums Leben gekommen sei.

Diese Szene kommt doch auch im „Bockerer“ vor!
Sicher. Da konnte ich Jahrzehnte später Erlebnisse aus meiner Kindheit einfließen lassen. Im Film war es der Onkel Hermann, ein alter Sozi, der ins Lager kam und nie wieder zurück. Seine Witwe hätte für die Urne sogar die Transportkosten zahlen müssen.

Szene aus dem ersten „Bockerer“-Film von Franz Antel
Szene aus dem ersten „Bockerer“-Film von Franz Antel © (c) ORF

Wie war die Stimmung und Situation in Ihrem Elternhaus während dieser Zeit?
Man hat nicht so viel nachgedacht. Man war damit beschäftigt zu leben. Aber beide, Mutter und Vater, gingen nie zur Partei. Mein Vater war aber deshalb kein Revolutionär. Was unbedingt notwendig war, das hat er mitgemacht, ansonsten hat er sich rausgehalten.

Angst muss ein ständiger Begleiter gewesen sein.
Ja, natürlich. Auch im Alltag war sie allgegenwärtig. Was durfte man tun, was nicht? Was durfte man sagen, was nicht? Und dann, später, die Bombenalarme. Wir sind immer in einen bestimmten Keller gegangen. Wo das Apollo-Kino war, da war früher ein Kloster – und die hatten einen tiefen, sicheren Keller. Unter der Paulskirche gab es auch einen Keller und in einem Teil davon ein Restaurant. Da hab ich auch so eine Buben-Erinnerung.

Erzählen Sie.
In diesem Restaurant saßen oft deutsche Soldaten mit ihren Mädchen und haben Bier getrunken. Über dem Lokal waren zwei Fenster. Und einmal haben wir Buben durch diese Fenster auf die Tische runtergepinkelt. Der Kellner hat den Hund auf uns gehetzt, aber der hat uns nichts getan, weil wir ihn gut kannten. Aber dieser Keller hat später eine dramatische Rolle in meinem Leben gespielt. Nach einem Bombenalarm wollte meine Familie in diesen Keller flüchten, aber der war schon voll. Also sind wir rüber ins Apollo-Kino. Und an diesem Tag schlug genau in diesen Keller, wo wir ursprünglich hinwollten, eine Bombe ein. Es gab unzählige Tote.

Das Kino hat Ihnen also schon früh das Leben gerettet.
Wenn man das so will, ja.

Wie haben Sie als Kind die Zeit unmittelbar nach dem „Anschluss“ 1938 miterlebt?
Ich habe punktuelle Erinnerungen. Diese zum Beispiel: Meine Mutter ging in ein Wäschegeschäft am Hauptplatz, mich nahm sie mit. Als meine Mutter zahlen wollte, sagte die Besitzerin: „Frau Merkatz, lassen S’ gut sein, jetzt ist eh schon alles vorbei.“ Diese Frau, eine Jüdin, hat also genau gewusst, was auf sie zukommt. Dann erinnere ich mich noch an den 9. November 1938. Wir wohnten nicht weit von der Synagoge entfernt, plötzlich war eine Unruhe in der Stadt, überall Lärm. Autos fuhren zur Synagoge, Menschen mit Koffern und Hüten standen dort, haben geweint, wurden von den SA-Leuten in die Autos gestoßen und weggebracht. Ein Mann schlug den Davidstern von der Synagoge. Und ich stand hinter einem Gitterzaun und habe alles beobachtet. Ich kannte ja viele dieser Menschen, bei einem Mann habe ich immer meine Schulhefte eingekauft. Dass diese Leute jüdisch waren und was das bedeutete, damit konnte ich damals als achtjähriger Bub nichts anfangen. Aber was ich wusste: Wenn die SA kommt, dann passiert etwas Schlimmes.

Wie ging es dann weiter?
Die Menschen wurden fortgebracht. Auch in meiner Klasse waren drei jüdische Kinder – und plötzlich waren sie nicht mehr da. Die Synagoge war zugenagelt, im Garten wucherte das Gras, aber mir ließ das Ganze keine Ruhe. Also habe ich mir Werkzeug vom Vater geschnappt, die Bretter weggerissen und bin hinein ins Gebäude. Und dort bin ich dann gestanden in der großen Halle. Alles menschenleer natürlich, nur unzählige Bücher auf dem Boden und ein kaputtes Radio. Es war gespenstisch. Dann überkam mich die Furcht, und ich bin rausgerannt ins Freie. Die Synagoge wurde übrigens später niedergerissen und ist nie mehr wiederaufgebaut worden. An dieser Stelle steht heute ein riesiges Gewerkschaftshaus.

Kommen wir zum Karl Bockerer, neben dem Edmund Sackbauer jene Paraderolle, mit der Sie österreichische Filmgeschichte geschrieben haben.
Ich bin froh, dass ich diese Rolle doch angenommen habe, denn ich konnte mich gut in diesen Mann hineinversetzen, weil ich ja miterlebt habe, was während dieser Zeit passiert ist. Und die Autoren des Theaterstückes dazu, Ulrich Becher und Peter Preses, wussten auch ganz genau, worüber sie da geschrieben haben, beide waren Juden. In ihrem Text drückte sich natürlich auch eine gewisse Hoffnung aus, die sich mit der Wirklichkeit nicht gedeckt hat.

Was meinen Sie damit?
Na ja, die Realität hat ja bekanntlich anders ausgeschaut, wie wir wissen. Viele Menschen wie den Karl Bockerer hat es nicht gegeben.

Sie haben zuerst das Bockerer-Stück am Wiener Volkstheater gespielt und wollten den Antel-Film ursprünglich gar nicht machen. Stimmt das so?
Ich muss vorausschicken: Der Herr Antel war ein absolut ehrenvoller Mann. Aber ich habe ihn natürlich mit anderen Filmen in Verbindung gebracht. Aber er hat zu mir gesagt: „Herr Merkatz, diese Lederhosenfilme habe ich doch nur gedreht, weil ich gut leben wollte.“ Diese Ehrlichkeit hat mir imponiert, also habe ich zugesagt.
Es gab dann in der Folge noch drei „Bockerer“-Filme.
Ja, der Antel wollte einfach nicht aufhören.

Viele sagen, man hätte nach dem ersten „Bockerer“ aufhören sollen.
Der erste war sicher der beste.

Wie würden Sie diesen Karl Bockerer charakterisieren?
Er war weder ein Held noch ein Widerstandskämpfer. Er war ein einfacher, ehrlicher Mann. Er hat sich angeschaut, was sich da abspielt vor seinen Augen, und ist zum Schluss gekommen: Nein, nicht mit mir, da geh ich nicht mit. Er war ein Mensch, der den anderen nach seinem Menschsein beurteilt hat, egal ob katholisch oder jüdisch. Ihr Blatt, Herr Rosenblatt.

Aber für diese Ehrlichkeit musste man viel Mut haben.
In der Realität der damaligen Zeit hätte der Bockerer auch mit Mut nicht lange überlebt, weil die Gestapo ihn sehr schnell abgeholt hätte und zurückgekommen wäre er in einer Urne. „Ich hab eh den Sauschädl in der Auslage, wozu brauche ich ein Hitlerbild?“ Solche Aussagen wären in Wirklichkeit natürlich tödlich gewesen. Der Bockerer war ein guter Film mit schönen Gedanken. Aber der Vater dieser Gedanken war der Wunsch. Der Wunsch, dass es damals mehr solche Menschen wie den Bockerer gegeben hätte.

Den Herrn Karl, den archetypischen Wendehals in seiner österreichischen Ausprägung, hat es hingegen in großer Zahl gegeben.
Ich bekam diese Rolle seinerzeit auch angeboten, aber sie war mir um viele Nummern zu groß. Und besser als der Helmut Qualtinger hätte man den Herrn Karl ohnehin nicht spielen können.

Was hätte der Karl Bockerer mit seiner Gesinnung gebraucht, um in der Wirklichkeit zu überleben?
Glück. Sehr viel Glück.