Meine Mutter war noch nicht einmal 14 Jahre alt, als sie sich Anfang April 1938 von Köflach auf den Weg machte, um in Graz Adolf Hitler zu sehen und ihm zuzujubeln. Gemeinsam mit ihrer Cousine stand sie am Straßenrand, als der „Führer“ vorbeifuhr. Statt laut zu jubeln, brachte meine Mutter vor Ergriffenheit keinen Ton heraus, sie war tief bewegt. Ihr Vater war als alter Sozialdemokrat im Kohlerevier entlassen worden, auch er setzte nunmehr seine Hoffnungen auf die neue Zeit.

Mein Vater hingegen, fast zehn Jahre älter als meine Mutter, hatte als lediges Kind einer Magd in Preitenegg soziale Ausgrenzung erfahren, vor allem durch die Kirche. Deutschnationale Bildungsbürger aus der Bezirksstadt Wolfsberg ermöglichten ihm den Besuch der Bürgerschule und schließlich der Lehrerbildungsanstalt. In diesem Milieu war die Mitgliedschaft im Turnerbund selbstverständlich. Sein Bund erwarb den Sablatnigsee im slowenischsprachigen Gebiet Kärntens, nannte ihn fortan Turnersee und errichtete dort ein Ferienlager zur körperlichen Ertüchtigung und zur nationalen Schulung. Der Weg hin zum Nationalsozialismus war vorgezeichnet.

Familiengeschichten wie diese gibt es in Massen. Aber es gibt auch die alternativen Biographien, jene des Widerstands, der Verfolgung, der Vertreibung und der Vernichtung. Mein Umgang ist seit vielen Jahren stärker mit Menschen mit diesen Familiengeschichten abgelaufen, die Ambivalenz der eigenen Familiengeschichte war aber immer da, oft durchaus schmerzhaft.

Adolf Hitler
Adolf Hitler © Picturedesk

Diese Ambivalenz ist typisch für die Geschichte unseres Landes in den Tagen der dramatischen Veränderung im Jahr 1938. Nach 1945 war man froh, dass Österreich als „erstes Opfer“ nationalsozialistischer Aggression galt. Man konnte die Verantwortung abschieben und die moralischen oder ökonomischen Konsequenzen aus den Verbrechen der Jahre vor 1945 getrost nach Deutschland auslagern. Wir waren ja 1938 erobert und 1945 wieder befreit worden. Dass dies zumindest nur eine Teilwahrheit ist, wurde der breiten Öffentlichkeit spätestens in der sogenannten „Waldheim-Affäre“ im Wahlkampf um das Präsidentenamt im Jahr 1986 bewusst.

Tatsächlich war das Streben nach einer Vereinigung mit Deutschland Teil der österreichischen Geschichte mindestens seit 1848. Selbst die Sozialdemokraten hatten den Anschluss in ihrem Parteiprogramm und strichen diesen Passus erst nach der Machtübernahme Hitlers aus der Liste ihrer politischen Ziele. Hitler selbst hatte erst 1932 die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt. Bis 1925 besaß er einen österreichischen Pass. Für ihn war die Eingliederung Österreichs stets ein politisches Ziel, allerdings hatte er Rücksicht auf Italien zu nehmen, und Benito Mussolini sah sich anfangs als Protektor des österreichischen Ständestaates. Als aber Italien im Abessinienkrieg, der 1935 begonnen hatte, jede internationale Reputation verloren hatte, was zu einer Annäherung von Italien und Deutschland führte, hatte Österreich seine Schutzmacht verloren und musste eigenständig versuchen, die Unabhängigkeit von Deutschland zu bewahren.

Kurt Schuschnigg suchte den Weg nach vorne – und scheiterte
Kurt Schuschnigg suchte den Weg nach vorne – und scheiterte © Picturedesk

Man sah sich selbst als „besserer deutscher Staat“ mit längeren Traditionen und überlegenen Kulturleistungen, aber machtpolitisch, militärisch und ökonomisch war man gegenüber dem großen Nachbarn nicht konkurrenzfähig. Und der Druck Deutschlands war durch die 1000 Mark-Sperre vor allem wirtschaftlich groß geworden. Deutschland verlangte ab dem Verbot der Nationalsozialistischen Partei in Österreich von jedem deutschen Bürger beim Grenzübertritt nach Österreich 1000 Reichsmark, was den österreichischen Fremdenverkehr praktisch an den Rand des Abgrunds brachte. Aber nicht nur der Fremdenverkehr litt, sondern auch an den österreichischen Universitäten brachen die deutschen Studierenden weg.

Eine Lösung erhoffte man sich durch das Juliabkommen von 1936, das am 11. Juli zwischen Österreich und Deutschland geschlossen wurde. Deutschland anerkannte darin die volle Souveränität Österreichs, hob die 1000-Mark-Sperre auf und gab die Zusicherung, sich nicht in die Innenpolitik des Nachbarn einzumischen. Österreich hingegen gab das Bekenntnis ab, ein deutscher Staat zu sein, und erklärte sich bereit, zwei Vertrauensleute der Nationalsozialisten in die Regierung aufzunehmen. So ernannte Bundespräsident Wilhelm Miklas auf Vorschlag von Kanzler Kurt Schuschnigg Guido Schmidt als Staatssekretär im Außenministerium und Edmund Glaise-Horstenau zum Minister ohne Geschäftsbereich. Die NSDAP blieb verboten, aber sie begann, die Beamten und die Exekutive zu unterwandern und im halböffentlichen Bereich immer auffälliger zu agieren. Arthur Seyß-Inquart wurde in den Staatsrat aufgenommen, und 1937 öffnete sich die Vaterländische Front für die Nationalsozialisten.

Der Einmarsch wurde später als „Blumenfeldzug“ bezeichnet
Der Einmarsch wurde später als „Blumenfeldzug“ bezeichnet © Picturedesk

Vergeblich bemühte sich Schuschnigg, eine Garantieerklärung für Österreichs Existenz von den Briten zu erlangen. Die Position Österreichs war isoliert, und alleine konnte man dem Druck aus dem Nachbarland schwer standhalten, zumal es nicht verborgen blieb, dass ein guter Teil der österreichischen Bevölkerung mit Hitler sympathisierte. Und Schuschnigg hatte wohl keine Mehrheit der Bevölkerung hinter seiner Politik. In dieser Situation stimmte er einem Treffen mit Hitler am 12. Februar 1938 auf dem Berghof zu. Dort sah er sich von seinem Gastgeber gedemütigt und in dieser Position gezwungen, das „Berchtesgadener Abkommen“ zu unterschreiben, das die völlige Agitationsfreiheit und die Wiederherstellung der Legalität für die österreichischen Nationalsozialisten sowie die Einbindung führender Nationalsozialisten auf wichtigen Regierungsposten vorsah.

Hitler überschreitet in seiner Geburtsstadt Braunau die Grenze
Hitler überschreitet in seiner Geburtsstadt Braunau die Grenze © Picturedesk

Schuschnigg suchte den alleinigen Weg nach vorne. „Bis in den Tod: Rot-Weiß-Rot!“, sprach er emotional am 24. Februar aus. Und am 9. März kündigte er für den 13. März eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs an, dessen Fragestellung lauten sollte, ob man „für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, ein christliches und einiges Österreich“ sei oder nicht. Die Linke zog mit, druckte Zehntausende Flugblätter für ein Ja und verteilte sie vor den Betrieben. Es war den Nationalsozialisten klar, dass diese Öffnung nach links zu einem Ja bei der Abstimmung führen würde. Dem wollte man zuvorkommen. Unter großem Druck zwang man Schuschnigg am Nachmittag des 11. März dazu, die Volksabstimmung abzusagen und zurückzutreten. Seyß-Inquart sollte Kanzler werden. Mit einem „Gott schütze Österreich“ verabschiedete sich der alte Kanzler und beschwor gleichzeitig, dass kein „deutsches Blut“ vergossen werden sollte.

Am 11. März hatte Hitler die Weisung für den Einmarsch gegeben, und am 12. März überschritten vorerst 65.000 Mann die österreichische Grenze. Sie stießen auf keinen Widerstand, sahen vielmehr jubelnde Menschen am Straßenrand. Hitler überschritt am 12. März 1938 bei Braunau die Grenze, um ein paar Stunden später vom Balkon des Linzer Rathauses aus seine erste große Rede auf österreichischem Boden zu halten. Schon am 13. März wurde das Gesetz über die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ (man beachte das „Wieder“!) beschlossen. Österreich hatte aufgehört, als selbstständiger Staat zu existieren.

Hitler in Österreich
Hitler in Österreich © Picturedesk

Österreich war also tatsächlich Opfer eines Drucks von außen, Opfer eines militärischen Aggressionsaktes und Opfer von Hitlers Strategie der Überwindung der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages. Aber das ist nur eine Seite der Geschichte. Die Machtübernahme des Nationalsozialismus erfolgte auch von innen, durch jenes Drittel der österreichischen Bevölkerung, das aus unterschiedlichsten Motiven seine Zukunftshoffnungen auf das nationalsozialistische Deutschland ausgerichtet hatte. Nun wollten aber sehr rasch viele schon lange Nationalsozialisten gewesen sein. So mancher Mensch, der vorne am Anzug das Abzeichen der Vaterländischen Front getragen hatte, hatte hinter dem Revers schon das Hakenkreuz stecken gehabt. Viele waren aber einfach Opportunisten, „Märzveilchen“, denen es darum ging, sich mit neuen Machthabern zu arrangieren und von zu erwartenden Veränderungen zu profitieren. Und es gab neue Aufstiegsmöglichkeiten, die mit der Vertreibung nunmehr unliebsamer Menschen frei geworden waren.

Unrühmlich schritt die Karl-Franzens-Universität Graz voran. Schon fünf Tage nach dem 12. März beschloss der akademische Senat, ein Gesuch an Hitler zu stellen, die Schirmherrschaft über die Universität zu übernehmen und ihr zu gestatten, den Titel „Adolf Hitler Universität“ zu führen. Gleichzeitig sollte den Herren Dr. Alfons Gorbach und Dr. Karl Maria Stepan das Doktorat aberkannt werden. Rektor war damals Josef Dobretsberger, Sozialminister im Ständestaat und ein Mann, der sich um einen Ausgleich mit der Linken bemühte. Nach 1945 wiedergewählt, bekam er bald Probleme mit der ÖVP und mutierte zum Anhänger der KPÖ. Er trat nach der denkwürdigen Senatssitzung am 17. März 1938 zurück, sein Nachfolger Adolf Zauner setzte aber die Beschlüsse um. Täter, Mitläufer und Opfer, alle Menschentypen konnte man 1938 in Österreich finden. Überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus, die sich von ihm eine Zukunftsperspektive erhofften, mischten sich mit Opportunisten, die auf Karrieren oder Bereicherung setzten.

Hitler in Linz 1938
Hitler in Linz 1938 © Picturedesk

Und auf der anderen Seite: Menschen, die durch die Nürnberger Gesetze, die nunmehr auch bei uns galten, ausgegrenzt und nicht nur materiell, sondern existenziell gefährdet waren. Darunter waren viele, die sich um Österreich große Verdienste erworben hatten, als tapfere Soldaten im Ersten Weltkrieg oder als herausragende Staatsbürger der Ersten Republik. Die meisten wollten nicht wahrhaben, wie wenig ihre Verdienste galten. Andere, darunter meine Eltern, glaubten 1938 an eine leuchtende Zukunft. Sie stimmten, wie fast alle, bei Hitlers Volksabstimmung mit Ja, und mein Vater zog wie Hunderttausende in den Krieg für sein vermeintliches neues Vaterland. Meine Mutter genoss die Aktivitäten und die Ferienaufenthalte beim BDM, und es sollte einige Jahre dauern, bis beide sehen konnten, was die Konsequenz ihrer Überzeugung letztlich gewesen war. Das war für sie, wie für viele andere, kein leichter, sondern ein schmerzhafter Lernprozess, den sie aber, und dafür sein ihnen gedankt, bewältigt haben.

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