Wenn Europa am vergangenen Freitag knapp an einem Blackout vorbeigeschrammt ist, was sollte die Lehre aus diesem Vorfall sein?
MICHAEL STRUGL: Richtig ist, dass es einen großflächigen Störfall gegeben hat, ausgehend von Südosteuropa. Dadurch ist es auch bei uns zu einem Frequenzabfall gekommen. Aber die Übertragungsnetzbetreiber haben das mit den dafür festgelegten Prozeduren sehr schnell und sehr professionell gemanagt. Die haben das voll beherrscht und zeitnahe die Normalfrequenz wiederhergestellt.

Zeigt das dann eher, wie gut man heute mit solchen Problemen umgehen kann oder war es vielmehr Alarmsignal, wie sehr die Stromnetze am Limit sind?
Es zeigt zwei Dinge. Erstens: Es gibt ein sehr professionelles Handling solcher Situationen. Zweitens: Ja, es wird herausfordernder und komplexer, die Systeme stabil zu halten. Auch wenn in diesem Fall die Stromerzeugung aus Wind und Sonne nichts mit der Störung zu tun hatte, sondern ein Gebrechen die Ursache gewesen sein dürfte, so ist es auch Faktum, dass wir die Netzkapazitäten stärken und die Speicherkapazitäten ausbauen müssen. Wir müssen Kraftwerksreserven für solche Fälle vorhalten. Versorgungssicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Das alles wissen wir natürlich nicht erst seit Freitag. Die Störung ist aber ein Anlass, um auf die Dringlichkeit hinzuweisen.

Das Gaskraftwerk Mellach ist in so einer Situation Gold wert?
Alles, was binnen Minuten angefahren werden kann. Vor allem Pumpspeicherkraftwerke.

Weiß man inzwischen Näheres über die Ursache?
Noch hat die ENTSO-E (Vereinigung Europäischer Übertragungsnetzbetreiber, Anm.) die Suche nach der Ursache nicht abgeschlossen. Die APG (Austrian Power Grid) analysiert in Österreich den Fall im Detail. Ergebnisse sollten in den nächsten Tagen vorliegen.

Anlass für unser Gespräch ist allerdings ein anderer: Wie ist es für Sie, jetzt das Verbund-Ruder zu übernehmen, nachdem Wolfgang Anzengruber den Konzern fast visionär und sehr von politischem Einfluss befreit zu einem richtungsweisenden Energieunternehmen in Europa umgebaut hat?
Das ist eine große Verantwortung. Er hat das Unternehmen mit ruhiger Hand durch zwölf nicht immer leichte Jahre geführt und mich in den vergangenen zwei Jahren sehr partnerschaftlich und gut auf die Aufgabe vorbereitet. Verbund ist heute in einer sehr vorteilhaften Position. Wir sind mitten in der Anfangsphase eines gigantischen Umbruchs im Energiesektor. Meine Vision ist, dass Verbund vom Energieversorger zum Leitunternehmen der Energiewende wird.

Michael Strugl
Michael Strugl © APA/HANS PUNZ

Wie sieht diese Vision aus?
In dieser Dekade wird Verbund ein starker, zu hundert Prozent Erneuerbarer Player. Zu 95 Prozent sind wir das schon, hauptsächlich mit Wasserkraft. 2030 wollen wir ein Viertel unserer Erzeugung aus den Erneuerbaren Fotovoltaik und Wind generieren. Wir wollen beim Thema grüner Wasserstoff führend sein. Wir sind der größte österreichische Energieinfrastrukturplayer mit Hochspannungsnetz und Gasnetz, das in Zukunft auch grüne Gase transportieren soll. Wir werden Innovations- und Technologieführer und Partner für die Dekarbonisierung der Industrie.

Erwarten Sie weitere Nachschärfungen bei den Klimazielen?
Ich glaube, das sind lebende Dokumente. Was derzeit Beschlusslage ist, ist nicht in Stein gemeißelt.

Sie wollen grünen Wasserstoff zum zweiten großen Energieträger im Verbund machen. Wie kommt das Thema in Österreich und in Europa voran?
Das Thema erfährt einen unglaublichen Hype. Wir glauben, dass hier der Schlüssel zur Energiewende liegt. Regierungen haben bereits begonnen Wasserstoffstrategien zu verabschieden, Österreich wird, nehme ich an, bald folgen. Verbund ist hier ein Frontrunner.

Gibt es ein Risiko, dass der Hype wieder verpufft? Ein Problem ist ja, dass die grüne Wasserstoff-Produktion noch sehr teuer ist.
Das stimmt. Es muss einem klar sein, dass das disruptiv ist, herkömmliche Verfahren radikal verdrängt. Das bedeutet immer auch Risiko. Aber Experten gehen davon aus, dass eine Wasserstoffwirtschaft zumindest im Europäischen Kontext entsteht. Große Teile der Wirtschaft von der Stahlbranche über Raffinerien, die Chemische Industrie bis hin zur Zementindustrie setzen darauf. Die Internationale Energieagentur spricht davon, dass Wasserstoff in Zukunft global handelbar sein soll.

Wie viel Geld wird der Konzern in die neuen Bereiche investieren?
Eine Gesamtsumme würde ich ungern publizieren. Von 2020 bis 2022 investieren wir insgesamt 2,1 Milliarden Euro. Wir könnten auch zusätzlich rasch in Zukäufe investieren, wenn sie zu unserer Strategie passen.

Wie hoch sollte ein CO2-Preis in Zukunft sein?
Zu sagen, Preis X wäre gut, das ist nicht meine Aufgabe. Entscheidend ist, die Einnahmen aus einem vernünftigen System wieder für den Klimaschutz zu verwenden. Und die betroffenen Industrien brauchen flankierende Maßnahmen, damit sie keine Wettbewerbsnachteile haben.

Könnte die Pandemie eine höhere CO2-Bepreisung bremsen?
Die Willenserklärung der EU ist eindeutig, die österreichische Regierung hat dafür eine Taskforce installiert.

Die Verbund-Aktie hatte 2020 mit plus 56 Prozent den höchsten Zuwachs aller ATX-Werte. Was sorgte für diesen Rückenwind?
Das ist ein fundamentaler Trend am Kapitalmarkt: Viel Geld sucht nach nachhaltiger Veranlagung.

Kürzlich ist der endgültige Beschluss für ein neues Murkraftwerk Gratkorn gefallen, 2024 soll in Leoben ein Kraftwerk folgen. Erwarten Sie wie beim Murkraftwerk Graz massiven Widerstand?
Das ist etwas, das wir kennen. Damit müssen wir umgehen können. Wir müssen dafür sorgen, durch Transparenz und eine kooperative Haltung die Akzeptanz zu erhöhen.