Ein paar Möwen schwingen die Flügel, bereit zum Abflug. Ihre „Startrampe“ könnte kaum idyllischer sein: ein kilometerlanger, weißer Sandstrand. Ein Vogel verlässt die Formation, nähert sich im Gleitflug dem klaren Blau der Ostsee und taucht sein Federnhaupt in das Binnenmeer. In aller Ruhe frönt die Möwe ihrem Bad, während über ihr – auf der knapp 400 Meter langen Seebrücke von Misdroy – Touristen Fotos knipsen. Selbst im Spätherbst (als diese Reise angetreten wurde) strahlt die Sonne bei angenehmen 20 Grad über Międzyzdrojev, wie die Polen die 5500-Einwohner-Stadt nennen.

Zwischen Strandkörben, Kuchen und Kiefernwald

Egal, ob Frühsommer, Hauptsaison oder Herbst, wer die Abwechslung zum klassischen Adriaurlaub sucht, wird an der Ostsee fündig. Der gelbe Sonnenschirm wird gegen den blau-weiß-gestreiften Strandkorb getauscht, auf gutes Essen und Aperolspritzer muss man nicht verzichten, im Gegenteil: Ein Lokal reiht sich an das nächste, Kaffee hier, Waffeln dort, eine Bounty-Torte da. Die Polen mögen’s süß.

Und auch ihre Strandorte versprühen süßen Charme. Wir schlendern in Misdroy der Promenade entlang, bis wir einen Kiefernwald betreten. „Der Nationalpark Wolin nimmt rund 20 Prozent der Insel Wolin ein“, erklärt der ortsansässige Reiseführer Piotr. Er schwärmt von der Natur und den wunderbaren Stränden seiner Heimat, und verspricht dabei nicht zu viel.

Von Radfahren bis Wellnessen

Ob Flanieren, Radfahren oder Wassersport, an der Ostsee kann man aktiv mit der Familie Urlauben oder beim Wellnessen entspannen (im „Shuum Boutique Hotel“ in Kolberg empfiehlt sich dabei nicht nur die Massage, sondern auch ein Gläschen Wein von der Karte).

Zwischendurch lassen sich kulturelle Stopps einplanen, wie ein Besuch der Hafen- und Kurstadt Kolberg oder des Burgwalls in Lubin. Die Ausgrabungsstätte ist zugleich ein fantastischer Aussichtspunkt über das Stettiner Haff (inneres Küstengewässer). Ein anderer Stopp befindet sich in Trzęsacz. Eine Backsteinmauer mit drei Bogen ragt über dem Steilufer empor. Die Kirche, die hier im 15. Jahrhundert zwei Kilometer von der Küste entfernt gebaut wurde, rutschte durch die Erosion über die Jahrhunderte ab. Heute sind noch diese Ruinen zu bestaunen.

Wie die Wikinger

Wer weiter zurück in die Geschichte reisen will, macht am besten einen Abstecher ins Wikingerdorf Wolin. In dem Freilichtmuseum treffen einmal jährlich Zehntausende kostümierte Besucher zum großen Wikingerfestival zusammen. An den ansonsten ruhigeren Tagen wandert man zwischen rekonstruierten Pfostenhäusern und Langschiffen auf den Spuren der kriegerischen Seefahrer von einst.

Die Berliner entdeckten die Seebäder

Gediegener ging es früher wohl westlich von Wolin zu. Die Insel Usedom, die sich Polen und zum größeren Teil Deutschland, teilen, entdeckte die Berliner Schickeria Ende des 19. Jahrhunderts für sich. Für den Kaiser waren die Kurorte Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin schon zuvor durch ihre breiten Sandstrände reizvoll. „Daher der Name Kaiserbäder“, erklärt Karina Schulz vom örtlichen Tourismusverband. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Fischerdörfer dann von den Berlinern zur Sommerfrische genutzt, prachtvolle Villen in Bäderarchitektur entstanden. Sie dienen heute nach wie vor als Feriendomizile. Zwischen ihnen reihen sich an der Strandpromenade nun auch „Eddy’s Fischerhütte“ oder der Eissalon mit dem blauen Schlumpfeis. Auf den zahlreichen Bänken sitzen vereinzelt Touristen mit einer Eistüte in der Hand.

Wir biegen von der Promenade in eine Seitengasse ab. Wüsste man es nicht besser, würde man meinen, durch San Francisco zu spazieren. Doch so weit muss die Reise nicht sein. Wer dem Massentourismus entfliehen will, hat die Küste hier in wenigen Flugstunden von Österreich aus erreicht. Ein Spalt zwischen zwei Villen hindurch zeigt das Panorama ein letztes Mal: die Dünen, die Strandkörbe, die sanften Wellen der Ostsee. Und eine Möwe, bei ihrem Bad im kühlen Nass.