Ein Athlet ist vor der 69. Vierschanzentournee besonders in den Vordergrund gesprungen. Der Norweger Halvor Egner Granerud dominiert den Springer-Zirkus vor der am Montag mit der Qualifikation in Oberstdorf (16.30 Uhr/live ORF 1) beginnenden Traditionsveranstaltung. Er war vor dieser Saison kein Sieger, dann schlug er gleich fünf Mal in Serie zu. Was macht diesen 24-Jährigen so stark?

Befragt nach dem Senkrechtstarter sind sich die Leute mit dem geschulten Auge einig: Da ist einer im für Skispringer berühmt-berüchtigten Flow. "Es geht alles ganz einfach. Dann gibt es im Springen oft solche Seriensieger", sagt Stefan Horngacher, der Tiroler Cheftrainer des deutschen Teams, über das Phänomen, das sich in manchem Springerleben bisweilen auch gar nicht einstellt. Horngachers früherer Teamkollege Andreas Widhölzl, nun Cheftrainer der Österreicher, hat es mutmaßlich 1999/2000 bei der Tournee erlebt: "Wenn man in Serie gewinnt, fühlt man sich unbesiegbar."

Nur auf Form oder gar Zufall aufgebaut sehen die beiden Graneruds Erfolgs keineswegs. "Er hat ein gutes Paket von Technik und Material beisammen und ist derzeit sicher verdient ganz vorne", sagt Widhölzl. Horngacher analysiert: "Er hat eine ganz gute Anfahrtsposition, sehr stabil durch den Radius, er kommt mit einer perfekt ausbilanzierten Position zur Kante hin. Er macht eine sehr gute Streckbewegung mit den Beinen, er hat eine sauguade Skiführung über dem Vorbau."

Der Mann aus Oslo, dessen Spitznamen "McSkalli", "Skallz" und "Grandex" eher einen DJ als einen Weitenjäger vermuten lassen, hat seine Klasse auf der großen Bühne zuvor nicht angedeutet. Noch im Vorjahr sprang er hauptsächlich zweitklassig im Kontinentalcup, seine damalige Form war gut genug für zwei Weltcup-Nominierungen im rumänischen Rasnow.

Nach einer Saison, in der er als ambitionierter Athlet wenig Gutes gefunden hatte, schrieb Granerud eine E-Mail, adressiert an Alexander Stöckl und mit der Bitte, man möge ihm seine Schwächen doch noch einmal schriftlich vor Augen führen. "Er war im letzten Jahr zu detailfokussiert, im Herbst hat er sich irgendwie verloren", sagt Stöckl, seines Zeichens Langzeit-Cheftrainer der Norweger. Die Antwort dürfte dem Sportler gefallen haben. "Er hat gesagt: Passt, jetzt kenne ich mich aus", erzählt Stöckl und attestiert: "Er sieht jetzt den roten Faden."

Diese Begebenheit mag für Graneruds Erfolg gar nicht das entscheidende Puzzleteil gewesen sein. Doch es verdeutlicht den Charakter. "Halvor ist ein extrem gewissenhafter Athlet mit großen Zielen, die er dann wirklich stur verfolgt. Er ist ein kluger Bursche, der sehr reflektiert für seine 24 Jahre ist", sagt der Tiroler Stöckl über seinen Schützling. "Der Nachteil, wenn man etwas im Kopf hat, ist, dass man sich leichter verzettelt." So wie im Winter davor.

Fünf oder mehr Weltcupsiege in Folge haben in den vergangenen 20 Jahren vor Granerud nur Sven Hannawald (5 Siege/2001 auf 2002), Janne Ahonen (6/2004 auf 2005), Matti Hautamäki (5/2005), Thomas Morgenstern (6/2007) und Ryoyu Kobayashi (6/2018 auf 2019) geschafft. Letzterer gibt momentan ein markantes Beispiel für die Unbeständigkeit der Form von Skispringern ab: In diesem Winter war Kobayashi, der Tournee-Triumphator von 2018/19, nie besser als Zwölfter.

Granerud genießt inzwischen den Moment. "Ich werde schon morgen damit anfangen, von Oberstdorf zu träumen", sagte der Vize-Skiflug-Weltmeister nach seinem Engelberg-Double zuletzt. Die Tournee bringt eine neue Situation. "Man muss schauen, wie er mit dem Druck jetzt umgeht", sagt Widhölzl, der aber die Beständigkeit sieht. "Er macht fast keine Fehler." Horngacher spricht für das starke deutsche Team: "Wir alle wissen natürlich auch, dass die Siegesserie irgendwann zu Ende sein wird. Wir werden dort den Hebel ansetzen und versuchen, diese Serie bei der Vierschanzentournee zu beenden."