Der Kontrast könnte größer nicht sein. Alexej Nawalny: 44 Jahre, lässig, dynamisch, humorvoll, er lebt im Plattenbau und überlebt sogar Anschläge mit Nowitschok. Wladimir Putin: 68, seit 20 Jahren, die man ihm mittlerweile ansieht, an der Macht. Putin ist in Dauerschleife in den staatlich dominierten Fernseh-Sendern zu sehen. Nawalny hat die Sozialen Medien erobert – und spricht dort die Sprache der Jungen, die seine Videos auf TikTok verbreiten. Auch der junge Putin konnte einst als Sportsmann, hoch zu Ross, mit nacktem Oberkörper oder bei einem Rettungsflug für Kraniche sein Heldenimage pflegen. Doch das ist vorbei. Nawalny hat geschafft, was vor ihm keiner schaffte: In einem Land, wo Putin bis heute keinen einzigen Alternativkandidaten aus seinem Schatten treten ließ, hat Nawalny ihm die Heldenrolle abgenommen.

„Der Fall ist gelöst. Ich weiß, wer mich umbringen wollte.“ So lautet der Titel eines Videos, das Nawalny veröffentlichte, nachdem er sich von dem Giftanschlag erholt hatte. „Ich habe meinen Mörder angerufen. Er hat gestanden“, so der Titel des nächsten. Nawalny mag einmal ein unbekannter Blogger mit einem Haufen Ehrgeiz gewesen sei. Mittlerweile ist der aus einem Dorf bei Moskau stammende Jurist weltbekannt – und ein Star der Jungen. 110 Millionen Mal wurde das Video über „Putins Palast“ angeklickt – auch wenn der Kreml-Chef dementiert, mit dem Luxusanwesen zu tun zu haben.



Anders als Putin, der seine jungen Jahre in der DDR verbrachte, hat Nawalny als Stipendiat in Yale studiert. Er kennt die Ästhetik moderner Late-Night-Shows und politischer Stand-up-Comedy. Seine Enthüllungsvideos sind spannend und ironisch mit Filmmotiven garniert. Wenn man ihn, Gassenhauer trällernd oder mit Freunden scherzend, auf investigativer Mission im Auto sieht, wirkt die Arbeit als Korruptionsbekämpfer wie ein Spaß.

Und doch geht es längst nicht mehr nur um Nawalnys Videos. Sein Leben selbst ist filmreif. Er wusste ganz genau, dass seine Rückkehr nach Russland Haft und Gefängnis bedeuten würde. Er wusste, dass sein Leben von jetzt an wieder am seidenen Faden hängt. Trotzdem kehrte er zurück in seine Heimat, um gegen die Bösen anzukämpfen, die das Land ausnehmen. Seine Waffen sind seine Worte – und Gesten: Nach dem Richterspruch formte er vor Gericht mit seinen Händen ein Herz – als Liebesbotschaft an seine Frau Julia: „Mach Dir keine Sorgen, alles wird gut ausgehen“, rief er ihr zu. Wer diese Geschichte mitverfolgt hat, wird sie nicht vergessen. Da kann Putin noch so viele Nawalny-Anhänger festnehmen lassen.

Landesweites Netzwerk

Größeren Kreisen bekannt wurde Nawalny bei den Protesten 2012: Der Schmähspruch über die Kreml-Partei – „Partei der Gauner und Diebe“, der damals tausendfach durch die Straßen hallte, stammt von Nawalny. 2013 fuhr er bei der Bürgermeisterwahl in Moskau mit 27 Prozent ein überraschend starkes Ergebnis ein. Er beschloss, bei der Präsidentschaftswahl 2018 gegen Putin anzutreten – doch die Kandidatur wurde ihm verweigert. Daraufhin baute Nawalny im ganzen Land ein aus Spenden finanziertes Anti-Korruptions- und Aktivisten-Netzwerk auf – und warb für die Strategie der „Intelligenten Stimmabgabe“: Seine Organisation gibt Wahlempfehlungen ab – nicht für Nawalny, sondern für jenen Kandidaten, der die besten Aussichten hat, den Kreml-Repräsentanen zu besiegen. Mit dieser Art Wahlkampf war er im Sommer in Tomsk beschäftigt – bis er nach dem Gift-Attentat zusammenbrach.

Ein russischer Mandela?

Nawalny zu einem „russischen Mandela“ zu stilisieren, wie es manche Anhänger tun, ist übertrieben. Seine politischen Positionen sind umstritten. Früher nahm er nicht nur an den „Russischen Märschen“ der Rechten und Ultrarechten teil, sondern fiel mit Sprüchen gegen Einwanderer auf. Nawalny erklärte, er wolle die Nationalisten in den Kampf gegen das System Putin einbeziehen, was er 2011 allerdings für gescheitert erklärte. Die nächsten Jahre wird er hinter Gittern verbringen. In der russischen Gesellschaft wirkt das fast wie ein kleiner Ritterschlag. „Im Grunde geht es dem Staat hier nicht um mich“, sagte Nawalny vor Gericht. „Sie sperren eine Person ein, um Millionen einzuschüchtern.“ Und er nutzte den letzten Auftritt in Freiheit erneut für bissigen Spott. Als „Wladimir, der Unterhosen-Vergifter“ werde Putin in die Geschichte eingehen. Nawalny, der Putin-Entzauberer.