Herr Weber, Sie wollen im kommenden Jahr Präsident der Europäischen Kommission in Brüssel werden. Was, wenn Sie nach der Bayernwahl aus München der Ruf ereilt?
MANFRED WEBER: Wir kämpfen in Bayern bis zum Schluss um jede Stimme. Die CSU kann eine hervorragende Bilanz vorlegen. Bayern geht es sehr gut. Markus Söder hat als Ministerpräsident richtige Akzente für die Zukunft gesetzt. Für mich persönlich ist alles klar: Ich bin Europapolitiker und bleibe es.

Sollten Horst Seehofer und Söder bei einem desaströsen Abschneiden der CSU zurücktreten?
Die Umfragewerte sind nicht zu beschönigen. Wir sind in einer nicht einfachen Situation. Deshalb mobilisieren wir die letzten Kräfte, um die Menschen zu überzeugen. Wir stehen zusammen, weil wir Erfolg haben wollen.

Sie gelten als liberales Gesicht der CSU. Sind Sie der Anti-Söder?
Es gibt verschiedene Wege, Politik zu machen. Ich liebe die argumentative Auseinandersetzung. Wo nur noch schwarz-weiß gemalt wird, bereitet mir das Sorge. Der Kompromiss ist das, was uns in Europa voranbringt. Das ist eine meiner Hauptbotschaften für meine Bewerbung als EVP-Spitzenkandidat. Ich glaube nicht, dass es klug ist, dass wir in gute und schlechte Europäer trennen. Ich will Brücken bauen.

Die CSU ist kein Einzelfall. Überall in Europa bröckeln die alten Traditionsparteien. Sind sie überhaupt noch zu retten?
Wir brauchen Mut zur Ehrlichkeit und politische Führung. Wir hatten in Deutschland einmal Politiker, die gesagt haben: „Wir schaffen die Mark ab.“ Damals war das eine verrückte, völlig unpopuläre Idee. Aber Theo Waigel und Helmut Kohl haben daran festgehalten, weil sie wussten, dass Europa wirtschaftlich nur überleben kann, wenn es zusammenhält. Dafür steht der Euro. So einen Weitblick wünsche ich mir auch für heute. Wenn uns das gelingt, wird die Debatte nicht mehr von den Rändern und Extremen bestimmt, sondern von der Mitte. Deshalb finde ich gut, wie Sebastian Kurz in Österreich Politik macht.

Beschönigen Sie da nicht einiges? Der Euro war visionär, aber er hat die EU in eine ihrer schwersten Krisen gestürzt.
Die große Krise war 2008 wegen zu hoher Verschuldungen einzelner Staaten. Heute fällt die Bilanz beachtlich aus. Wir haben stabiles Wirtschaftswachstum in der Eurozone und 13 Millionen neue Jobs. Österreich ist hier mit seinem Nulldefizit Vorbild. Alle Euroländer sind bei der Neuverschuldung unter drei Prozent. Der Weg, den wir gegangen sind, Solidarität, aber auch Eigenverantwortung einzufordern, hat funktioniert. Jetzt müssen wir sicherstellen, dass der Erfolg erhalten bleibt. Da geht es nun vor allem um Italien.

Entscheidet sich Europas Schicksal in Italien?
Die Sorgen, die Italien umtreiben, dürfen uns nicht kaltlassen. Eine ganze Generation Junger findet dort keine Arbeit. Wir müssen mit der Regierung in Rom einen vernünftigen Weg finden. Die EU kann als Gemeinschaft nur funktionieren, wenn die Regeln respektiert werden. Europa war nie das Versprechen, dass wir auf diesem Kontinent ohne Probleme leben, sondern dass wir die Probleme miteinander besser lösen als mit Egoismus. Das wird der Brexit zeigen. Wir werden erleben, was es heißt, wenn man die EU infrage stellt. Während die 27 geeint sind bei den Verhandlungen, herrscht in Großbritanniens Regierung Chaos. Der Brexit wird dort schweren Schaden verursachen.

Das klingt jetzt so: Ätsch, liebe Briten, selber schuld! Sollte Europa nicht auf London zugehen?
Nein. Wir bedauern den Ausgang des Referendums, aber wir müssen ihn respektieren. Die große Frage lautet nun: Was bedeutet es, wenn man die EU verlässt? Für mich heißt es, dass man die Vorteile dieser Gemeinschaft verliert. Ein britisches Rosinenpicken wird es mit uns nicht geben.

Sollen die Briten ein zweites Mal abstimmen?
Das müssen sie selber entscheiden. Die Tür steht offen.
Der Brexit ist nur das sichtbarste Symptom einer tiefen Sinnkrise. Warum hat die EU ein so mieses Image bei den Bürgern?
Viele verbinden im Alltag die Vorteile der Gemeinschaft gar nicht mit Europa. Brüssel ist für sie eine Bürokratie und gefühlt weit weg. Das will ich ändern. Und wenn etwas nicht funktioniert, wird in manchen nationalen Regierungen nach wie vor das Spiel gespielt, den Schwarzen Peter Brüssel zuzuschieben. Dabei wird selten etwas beschlossen, für das nicht alle die Hand gehoben haben. Das dürfen wir nicht länger zulassen.

Ihre EVP plagt sich seit Jahren mit Viktor Orbán. Warum machen Sie nicht reinen Tisch?
Ich musste schon eine Entscheidung fällen, während andere bis dato nur davon reden. Ich habe im Europaparlament für die Aktivierung des Artikels 7 gestimmt, weil mir die Entwicklung in Ungarn Sorge bereitet. Ich kann nicht akzeptieren, dass es Attacken auf die Freiheit der Wissenschaft gibt. Und eine lebendige NGO-Szene gehört zu einer modernen Gesellschaft. Bei Grundrechten gibt es keinen Spezialrabatt der EVP.

Warum werfen Sie die Fidesz-Partei dann nicht aus der EVP?
Der Artikel 7 ist der Beginn eines ernsten Dialogs. Wir reden miteinander, nicht übereinander, und die EVP ist eine Plattform dafür. Ich fordere Europas Sozialisten auch nicht auf, die rumänischen Sozialdemokraten auszuschließen, obwohl im Sommer Zehntausende gegen deren Antikorruptionsgesetze auf die Straße gegangen sind.

War die Osterweiterung übereilt und rächt sich das jetzt?
Die Osterweiterung war ein historischer Moment. Der Kontinent wurde wiedervereint. Ich lehne es ab, nur über die Probleme in Mittel- und Osteuropa zu reden. Korruption gibt es auch in anderen EU-Staaten. Und dennoch: Wer von uns will außerhalb Europas leben? Europa ist eine Insel der Werte, Sicherheit und des Wohlstands. Rundherum ist es kalt.

Sie wollen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beenden. Was sind die Gründe dafür?

Die Türkei kann nicht Mitglied der Europäischen Union werden. Wenn ich in München oder Graz heute auf die Straße gehe und die Leute frage, ob Prag, Budapest oder selbst der Kosovo in Europa liegen, erwidern sie mir: „Blöde Frage, natürlich!“ Wenn ich aber frage, gehört das Kurdengebiet vor der irakischen Grenze zu Europa, dann werden mir alle antworten: „Nein!“ Wenn Europa sich überdehnt und nicht berücksichtigt, wo für die Menschen seine Grenzen verlaufen, dann werden wir die EU zerstören. Deswegen: Ja zur engen Partnerschaft mit der Türkei auf Basis von individuellen Verträgen, aber Nein zur Vollmitgliedschaft!