Die EU-Ratspräsidentschaft Österreichs biegt in die Zielgerade. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Franz Fischler: Noch ist sie ja nicht zu Ende. Auf der Ebene der Diplomaten und Beamten hat man aber einiges weitergebracht – wofür es in Brüssel auch viel Lob gibt. Aber vieles ist noch nicht so weit, dass es schon auf die politische Bühne gehoben werden kann. Weniger gut läuft es auf politischer Ebene. Haben wir jetzt klarere Antworten auf die Frage der Migration oder wie es am Balkan weitergehen soll? Bei der Ambition, den Erweiterungsprozess wieder in Schwung zu bringen, ist wenig passiert.

Auch weil statt Erweiterung derzeit die Verkleinerung der EU durch den Brexit im Vordergrund steht. Es gibt zwar eine von EU-Verhandler Michel Barnier und Englands Premierministerin Theresa May ausverhandelte „politische Erklärung“, aber parallel weiter starken Widerstand in London gegen diese Pläne. Sehen Sie da Licht am Ende des Tunnels?
Es ist alles sehr undurchsichtig. Die entscheidende Frage wird sein, ob May im Unterhaus eine Mehrheit für diesen Plan bekommt. Derzeit sieht es nicht danach aus, sondern eher, dass Mays Gegner ihr dort mit „Jetzt erst recht“-Positionen die Hölle heiß machen.

Wenn es keine Mehrheit gibt ...
... dann gibt es alle möglichen Varianten von Ideen, die herumgeistern. Zum Beispiel ein neues Referendum, in dem drei Optionen abgefragt werden könnten: harter Brexit, Verbleib in der EU oder die Umsetzung des May-Deals. Wobei die Frage ist, ob es nicht davor zu einem Rücktritt oder einem Misstrauensvotum kommt.


Ist May nur mehr eine „lame duck“, also politisch handlungsunfähig?
Das ist die falsche Bezeichnung. Sie gleicht eher einem politischen Selbstmordattentäter, der sich selbst in die Luft sprengt. Die Gefahr besteht.

Was würde ein harter Brexit bedeuten?
Dass viele Chancen, die bei einem geregelten Austritt noch da wären, nicht mehr da sind. Zum Beispiel wird die Zusammenarbeit im Wissenschaftsbereich und sicherheitspolitisch schwieriger. Man darf nicht vergessen, dass Großbritannien ein wichtiges Nato-Mitglied ist, und man muss auch zugeben, dass sie den besten Geheimdienst von allen europäischen Staaten haben.

Auch im Süden der EU wächst ein Krisenherd. Hat man in Brüssel ausreichend mit dem „Patienten“ Italien gerechnet?
Dass Italien ein „Patient“ ist, darüber redet man schon zehn Jahre oder noch länger. Das Problem, das jetzt entstanden ist, ist, dass die Doktoren, die den Patienten in Italien behandeln sollten, Kurpfuscher sind.

"Kurpfuscher": Fischler an die Adresse von Italiens Wirtschaftsminister Luigi Di Maio, Premierminister Giuseppe Conte und Innenminister Matteo Salvini (v.l.)
"Kurpfuscher": Fischler an die Adresse von Italiens Wirtschaftsminister Luigi Di Maio, Premierminister Giuseppe Conte und Innenminister Matteo Salvini (v.l.) © APA/AFP/FILIPPO MONTEFORTE

Auch Deutschland scheint an einer politischen Kreislaufschwäche zu leiden. Hat Sie der Ausgang der Bayern-Wahl überrascht?
Am ehesten überrascht hat mich, dass offenbar ein Rest von Einsicht bei Horst Seehofer eintritt, indem er zumindest andeutet, dass ein Sichzurückziehen vielleicht auch ein Lösungsbeitrag sein könnte.

Ist er der Totengräber der CSU? Und politischer Sterbebegleiter von Bundeskanzlerin Angela Merkel?
Totengräber würde ich nicht sagen, aber in letzter Zeit ist er das Hauptproblem.

Wie sehr leidet die EU an oder durch Angela Merkels ins Wanken geratene Macht?
Ich würde das nicht einseitig Frau Merkel zuschieben. Richtig ist: Man hat viel mehr Erwartungen in die deutsch-französische Achse gesetzt. Aber sie funktioniert nicht mehr so – nicht nur wegen der zwei handelnden Personen. Auch die Bereitschaft, Vorschläge, die aus dieser deutsch-französischen Achse heraus gemacht werden, anzunehmen, ist massiv zurückgegangen. Zum Beispiel bei den Visegrád-Staaten. So gesehen stehen wir vor der Frage – und man muss sie auch in Zusammenhang mit den nächsten Europawahlen stellen: Was wollen wir eigentlich miteinander?

Ist die Annäherung Österreichs an die Visegrád-Staaten in diesem Zusammenhang sinnvoll?
Das wird ein bisserl einseitig wahrgenommen. Es ist nicht so, dass sich Österreich diesen Staaten annähert. Aber natürlich muss man mit ihnen reden und bis zu einem gewissen Grad auch Verständnis zeigen, weil die ansonsten von vorneherein ins Eck gestellt sind. In Kontakt zu bleiben, halte ich für wichtig. Wenn das so interpretiert wird, dass wir gleich deren Positionen übernehmen, wäre das aber gefährlich.

Ist das derzeit so?
Das glaube ich nicht, weil es eine große Distanz gibt zwischen der Position, ein „Versteher“ zu sein, und jener, tatsächlich fremde Positionen zu übernehmen.

Ist die Bundesregierung nicht ein bisserl mehr als nur „Versteher“?
Es gibt hie und da Vorkommnisse, die – wenn man an die europäische Sache denkt – nicht hilfreich sind.

Sie sprechen die FPÖ an?
Unter anderem.

Wie lange kann das in einer Koalition gut gehen?
Die Nagelprobe wird die Europawahl werden.

Fischler: "Die EU-Wahl wird die Nagelprobe für die Koalition"
Fischler: "Die EU-Wahl wird die Nagelprobe für die Koalition" © APA/ROLAND SCHLAGER

Sie haben im Sommer gemeint, die Neuaufstellung der ÖVP, was beispielsweise die Binnenverhältnisse unter den Bünden beziehungsweise zwischen Bund und Ländern betrifft, könnten Sie noch nicht erkennen. Hat sich an dieser Analyse etwas geändert?
Die Neuaufstellung gibt es auf der Bundesebene unter den Beteiligten an der neuen ÖVP, aber bis zur Wählerschaft ist noch nicht durchgedrungen, was das genau sein soll.

Solange Erfolge da sind, gibt es Rückenwind. Allerdings ist die ÖVP bei der Sympathie für ihren Kapitän für schnelle Windrichtungsänderungen bekannt.
Es hat schon der ehemalige Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer festgestellt, dass, bevor noch der neue ÖVP-Obmann feststeht, schon an seinem Stuhl gesägt wird.

Hören Sie schon ein Sägen? Oder zumindest ein leises Feilen?
Ein Feilen eher. Aber es ist so, dass viele von der Performance des Kanzlers beeindruckt sind und auch von den Erfolgen, die das neue System bis jetzt hat.

Aber der Rechnungshof hat zuletzt die Sozialversicherungsreform zerfleddert, bei der Abschiebepraxis für Asylwerber, die in einer Lehre sind, kam scharfe Kritik aus der Wirtschaft – sind das alles Erfolge?
Alles sind nicht Erfolge. Manches ist für einen Teil der Bevölkerung vorteilhaft, anderes für andere. Bei den Lehrlingen hat sich zu sehr die FPÖ in der Regierung durchgesetzt. Da hat es anfangs Ankündigungen gegeben, dass man strikt sein würde, was die reine Rechtsentscheidung betrifft, aber die Möglichkeit der humanitären Gründe sehr großzügig auslegen würde. Von dieser großzügigen Auslegung merke ich noch nichts.

Ist da das Christlichsoziale der ÖVP auf dem Altar des Koalitionsfriedens geopfert worden?
Das ist zu extrem ausgedrückt. Auch die neue Regierung hat eine gewisse soziale Ader. Aber nach außen hin wird das anders wahrgenommen, weil insbesondere im Wirtschaftsflügel der ÖVP in den letzten Jahren die Meinung vorherrschte, die eigenen Wünsche würden nicht berücksichtigt werden. Jetzt hat die Regierung einige dieser Wünsche erfüllt. Das wird von der Opposition als soziale Kälte ausgelegt. Da muss man aber schon die Fakten beurteilen. Und dieses Wunder, dass es Maßnahmen gibt, die jedem Einzelnen der acht Millionen Österreicher einen Vorteil bringen, wird ohnehin selten stattfinden.

Tut es Ihnen um die Sozialpartnerschaft leid?
Sie tendieren dazu, mich dazu zu verleiten, dass ich so generelle Aussagen treffe, wie Sie Fragen stellen.

Wir können konkret werden.
Ja, ja (lacht). Die Sozialpartnerschaft hat positive und weniger positive Seiten. Die Lösungskompetenz von Problemen – und das ist evident – hat in den letzten Jahren nachgelassen. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie gewinnt diese Kompetenz wieder zurück oder sie wird immer mehr Schwierigkeiten bekommen.