Mit gemischten Gefühlen entdecke ich in einer meiner Lieblingsbuchhandlungen ein neues Regal, das sich nur noch einem Thema widmet: ADHS bei erwachsenen Frauen. „Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S: Warum sie so besonders sind und was sie so stark macht“, „Kirmes im Kopf: Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe“: 

In den letzten Jahren hat sich in meinem erweiterten Bekanntenkreis gefühlt jede zweite Frau mit AD(H)S diagnostizieren lassen (nebenbei bemerkt: nur ein einziger Mann). Selten war eine Diagnose so in Mode. Sie beschreibt eine Mischung aus auffälligem Sozialverhalten, dauernder Abgelenktheit, Unkonzentriertheit und — je nachdem, ob das „H“ dabei ist — einem Schuss Hyperaktivität. Dabei ist es manchmal schwer zu sagen, wo es sich um eine Störung handelt und wo um die Beschreibung eines modernen Lebensstils. Halb am Handy, halb in der Wirklichkeit.

Natürlich kann so eine Diagnose die Wende zum Guten sein: Bei einer Kollegin war es die ersehnte Rettung in einem Kopfschlamassel, das sie nie verstand. Jetzt lernt sie, produktiver zu arbeiten und sich in ihren Beziehungen reifer zu verhalten. Gut für sie!

Für andere aber scheint die Diagnose ein Freibrief zu sein: Endlich eine Erklärung, warum sie sich schon immer so verletzend verhalten haben. Nach dem Motto: Deal with it, ich habe ADHS — was kann ich schon für mein Verhalten? 

Die Beziehung einer meiner Freunde zerbricht gerade an dieser Einstellung. Seine Freundin, erzählt er mir, war nie einfach, aber lange habe ihn das nicht grundsätzlich gestört. Er liebte sie, auch wenn sie mal launisch war oder sich seltsam verhielt. Sie war eben auch unkonventionell und sensibel. Doch seit ihrer ADHS-Diagnose lebe sie ungeniert ihre schwierigen Seiten aus. Sie gebe sich keine Mühe mehr, Verantwortung zu übernehmen oder sich zuverlässig um Dinge zu kümmern. Wenn er sie darauf hinweist, sage sie nur noch, sie sei »neurodivers«: Ihr Gehirn funktioniere eben anders.

Im Job lässt sie ständig Chaos ausbrechen, doch was soll sie tun. So ist sie halt! Sie hat es jetzt schwarz auf weiß. Kritisiert ihr Freund sie sachte, wird sie wütend: Er habe schließlich kein ADHS, sie aber schon!

Es stimmt ja: Psychische Probleme sind so ernst wie physische. Was mich an eine Freundin erinnert, die seit Wochen einen Bandscheibenvorfall hat, der ihr höllische Schmerzen bereitet. Ich habe kein einziges Mal erlebt, dass sie deshalb zu mir oder ihren anderen Freundinnen nicht nett war. 

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