Was hat aus Ihrer Sicht als Komplexitätsforscher während der letzten Jahre gut funktioniert?
PETER KLIMEK: Wir waren nur ein kleiner Teil des Systems, das für Österreich gearbeitet hat. Dieses Reporting bzw. Forecasting-System, mit dem Konsortiums-Ansatz und der Zusammenarbeit mehrerer Institute, das hat funktioniert und da braucht sich Österreich eigentlich nicht zu verstecken. Außerdem gab es aus Österreich eine Reihe von sehr gut gemachten Studien, die auch international Niederschlag fanden. Hier konnten wir zeigen, was die Wissenschaft beitragen kann.

Was ist nicht so gut gelaufen?
Es hat über die drei Jahre der Pandemie hinweg einen Wildwuchs an Gremien gegeben. Wir hatten die Corona-Kommission, dann ist Gecko dazu gekommen, dann gab es auch noch die ganzen anderen Beraterstäbe, auf Bundesebene, auf Landesebene. Die Zuständigkeiten wurden mit der Zeit unklar, wo tatsächlich die Pandemie gemanagt wird.

Gibt es eine Einschätzung, die Sie im Lauf der Pandemie hatten, die Sie revidiert haben? Wo Sie sagen, OK, da habe ich mich geirrt?
Im Kleineren passiert das laufend. Der Punkt, der mich im Nachhinein wirklich aufregt, betrifft den Herbst 2020. Nach dem sehr ruhigen ersten Sommer sind wir etwas blauäugig in den Herbst gegangen. Obwohl wir aus historischen Beispielen wussten, dass die zweiten Wellen mitunter herausfordernder waren als die ersten Wellen. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus im Herbst 2020 ausgebreitet hat, war überraschend. Und umgekehrt zu sehen, wie schnell Wellen – etwa im Frühjahr 2021 – durch den saisonalen Effekt auch wieder in sich zusammenfallen können.

Welches sind die Lehren aus dieser für die nächste Pandemie?
Unser Ziel sollte sein, auf Basis der vorhanden Daten möglichst schnell Entscheidungen zu treffen. Doch diese Geschwindigkeit im Pandemiemanagement hat gefehlt. Das hatte unterschiedliche Gründe. Einer dieser Gründe war der viel zitierte Datenblindflug. Wir wissen bis heute in Österreich zum Teil nicht, wo genau sich das Virus wie stark ausbreitet, welche Personengruppen betroffen sind, welche Risikofaktoren welche Rolle spielen. Über weite Strecken der Pandemie und bis zuletzt haben uns hier Daten aus anderen Ländern weitergeholfen. Es braucht eine gewisse Landschaft an Gesundheitsdaten, um im Ernstfall die entsprechende Evidenz bereitstellen zu können.

Hat sich aus Ihrer Sicht hier etwas verbessert?
Punktuell ist es besser geworden, das hat aber nicht immer notwendigerweise mit der Pandemie zu tun. Zum Beispiel Daten für die Forschung wurden leichter zugänglich. Auch beim Covid-19-Register hat sich etwas getan. Aber, die großen Bretter wurden nach wie vor nicht angebohrt. Wir haben nach wie vor fragmentierte Gesundheitsdaten. Wir sind nicht in der Lage, Daten zu verbinden, um daraus wichtige Schlüsse ziehen zu können. Informationen wie Impfstatus, Krankheitsgeschichte, Infektionsgeschichte, sozioökonomische Faktoren – bei all dem hat sich wenig geändert. Das muss aber passieren, wenn der europäische Gesundheitsdatenraum umgesetzt wird, wie es geplant ist.

Was braucht es für eine künftige wirkungsvolle Pandemiebekämpfung noch?
Eine Stärkung der Public-Health-Landschaft in Österreich. Es fehlt bei uns nicht nur die Bündelung der Daten, es fehlt auch an Stellen, in welchen Kapazitäten und Kompetenzen gebündelt sind, mit diesen Daten und Analysen umzugehen. In diesem Bereich haben uns Länder, die gleich groß oder kleiner sind als wir, einiges voraus. Ein Beispiel ist hier Dänemark. Es braucht starke Institutionen, die in der evidenzbasierten Politikberatung als Schnittstelle fungieren können. Da waren wir in Österreich rasch überlastet und das ist auch ein Lerneffekt aus der Pandemie. Ähnliches gilt für die Infektionsepidemiologie, da wurde es auch sehr schnell sehr dünn. Das ist mit wenigen Ausnahmen ein nicht existentes Forschungsfeld in Österreich.

Ein Streitpunkt waren im Verlauf der Pandemie immer die Schulschließungen. Der Bildungsminister sagte diese Woche, die Schließungen seien ein Fehler gewesen. Doch das ist im Rückspiegel immer sehr einfach zu bewerten, oder?
Politikerinnen und Politiker sind vom Volk gewählt, um Entscheidungen zu treffen. Es ist nicht die Rolle der Wissenschaft zu sagen, ob die Schulen auf oder zu sein sollen. Gerade in der Hinsicht ist das Schulthema interessant, den da gab es zu Beginn die Fehleinschätzung, dass sich das Virus dort eben nicht so stark ausbreitet. Das wurde aber durch Studien widerlegt, es blieb aber das Narrativ, das viele dankbar aufgenommen haben. Daran sieht man, wie ausgeprägt dieses Spannungsfeld am Anfang der Pandemie war. Wir werden wir uns in der Forschung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch mit diesen Fragen beschäftigen, um beantworten zu können, was wirklich die Langzeitfolgen der Schulschließungen waren.

Wie bewerten Sie die Schulschließungen mit ihrem jetzigen Wissen?
Diese Maßnahme muss man im Detail nach Pandemiephasen bewerten. In der ersten Welle wussten wir nicht, was auf uns zukommt. Dass man hier auch in den Schulen angesetzt hat, um die Viruszirkulation einzudämmen, war verständlich. Aber spätestens bei der zweiten Welle war klar, dass man das Infektionsgeschehen noch abflachen kann, ohne dass man alles runterfährt und zusperrt. Im Vorfeld des zweiten Lockdowns war aus wissenschaftlicher Sicht etwa klar, dass es dazu 30 bis 40 Prozent an Kontaktreduktionen braucht. Wie ich diese Kontakte reduziere, war eine politische Entscheidung. Wenn man sich in Österreich öfter für Schulschließungen entschieden hat und weniger oft etwa für verpflichtendes Homeoffice, muss man sich fragen, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist? Doch was hätten wir anstatt den Schulschließungen gemacht oder wären die Kontakte nicht reduziert worden, welche Effekte hätte das gehabt? Die Vielschichtigkeit, wie man diese Maßnahmen bewerten müsste, kommt in dieser Debatte oft zu kurz.

Es wurde in Österreich gefühlt immer über einzelne Maßnahmen und nicht die Summe der Maßnahmen und ihre Effekte besprochen. Abschließend: Wie ist die Summe der Maßnahmen in Österreich zu bewerten?
Wenn wir einen internationalen Ländervergleich anstellen, dann haben wir in Österreich eine suboptimale Strategie gewählt. Unsere Strategie war es, die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Das bedeutet, wir dämpfen das Infektionsgeschehen, bevor die Intensivstationen voll sind. Das war so, bis Omikron gekommen ist, danach hat sich das wieder gewandelt. Was ist das Problem an dieser Strategie? Österreich hat eine sehr, sehr hohe Kapazität an Spitalsbetten. Das bedeutet, bis unsere Intensivstationen überlastet sind, ist in anderen europäischen Ländern schon lange Schluss. Aus diesem Grund, wurden bei uns die Wellen höher als in anderen Ländern, ebenso wie die damit verbundene Übersterblichkeit. Wenn wir dann aber an dem Punkt sind, dass es sich nicht mehr ausgeht, ist das Infektionsgeschehen derart hoch, dass wir es nur mehr mit dem massiven und langanhaltenden Einsatz von Maßnahmen schaffen, die Welle zu drücken. Die Folge war, das Mitmachen der Bevölkerungen wurde immer geringer, die sehr strengen Maßnahmen haben immer weniger Wirkung entfaltet. Das ist auch ein Learning: Hätte man früher reagiert, wären die Wellen niedriger geblieben und man hätte strenge Maßnahmen nicht so lange einsetzen müssen.