Die Risikogruppe: Dieser Begriff hat sich in der Corona-Pandemie über eine große und ebenso diverse Bevölkerungsgruppe gelegt – damit gemeint sind vor allem ältere Menschen, ab einem Alter von 65 Jahren. Und ja, es stimmt: „Ältere Menschen und Menschen, die an mehreren Erkrankungen leiden, sind besonders gefährdet, einen schweren Covid-19-Verlauf zu haben“, sagt Andrea Cronenberg, Fachärztin für Neurologie. Doch wovon hängt ab, wie wir altern – und was kann man tun, um so lange wie möglich gesund zu bleiben?

„Die Geschwindigkeit, mit der wir altern, hängt von vielen Faktoren ab“, sagt Cronenberg. Dazu zählen genetische Faktoren, unsere sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, der Lebensstil sowie psychische Belastungen und unser Umgang damit. „Auf der anderen Seite können gesunde Ernährung, das Meistern von psychischen Belastungen, Bewegung, das Vermeiden von chronischem Stress und Vertrauen in unser Umfeld einer vorzeitigen Alterung vorbeugen“, sagt die Expertin.

Immunzellen im Alter "erschöpft"

Von unserem individuellen Alterungsprozess abhängig verändert sich auch die „Fitness“ unserer Zellen – das gilt auch für die Zellen unseres Immunsystems. „Die Erneuerung der Immunzellen erschöpft sich im Laufe des Lebens, man nennt das Immun-Seneszenz“, sagt Cronenberg. Dadurch können Zellen Signale nicht mehr richtig deuten und können auch auf Infektionen nicht mehr entsprechend reagieren.

„Dadurch ist die Immunabwehr von älteren Menschen schwächer, sodass wir Ärzte dringend dazu raten, sich gegen Erkrankungen wie Grippe, gegen Pneumokokken, die eine Lungenentzündung auslösen, sowie gegen den Keuchhusten impfen zu lassen“, sagt die Ärztin. So könnte verhindert werden, dass zu einer Covid-19-Erkrankung eine weitere Atemwegserkrankung dazukommt.

Andrea Cronenberg, Neurologin
Andrea Cronenberg, Neurologin © kk

Was Cronenberg gerade bei Menschen im höheren Alter und mit chronischen Erkrankungen (Bluthochdruck, Diabetes, Herzerkrankungen) oft beobachtet, ist ein Vitamin-D-Mangel. „Dieses Hormon spielt eine wichtige Rolle für das Blutdrucksystem ebenso wie für das Immunsystem“, sagt Cronenberg. Da Vitamin D vor allem dann gebildet wird, wenn Sonnenlicht auf unsere Haut trifft, sei es so wichtig, dass ältere Menschen mobil bleiben und ihre Spaziergänge und andere Bewegung im Freien auch in der Pandemie – unter Einhaltung der Abstands- und Hygienebestimmungen – fortsetzen. Gerade bei älteren Menschen kann die Zufuhr von Vitamin D über Nahrungsergänzungsmittel aber unumgänglich sein.

„Innerhalb der Gruppe der Älteren sind Bewohner von Alten- und Pflegeheimen am meisten gefährdet, an Covid-19 zu erkranken“, sagt Cronenberg. Das liege einerseits daran, dass dort viele Menschen an Demenz leiden, daher die Abstandsregeln und das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes nicht einhalten können und auch jede Änderung in der Tagesstruktur zu einer Verschlechterung führen kann. Andererseits spiele hier auch die Personalknappheit eine große Rolle. „Um Bewohner in Pflegeheimen zu schützen, helfen Medien: Skypen, telefonieren, Briefe schreiben, selbst gemalte Bilder von den Enkeln oder Fotos schützen vor zu großer Isolation“, sagt Cronenberg.

Schon davor von Vereinsamung betroffen

Stichwort Isolation: Wie geht es der „Risikogruppe“ in dieser Pandemie? „Ältere Menschen sind aufgrund des Verlustes ihres sozialen Umfeldes, zum Beispiel durch Tod von Freunden oder Angehörigen, bereits häufig von Vereinsamung betroffen. Durch die Einschränkungen, die die Pandemie notwendig gemacht hat, kann sich die Einsamkeit verstärken, was fatale Folgen haben kann“, sagt Paul Ziller, Arzt für Allgemeinmedizin und psychosoziale Medizin. In der Folge können Depressionen, Suchterkrankungen und Angststörungen entstehen.

Arzt Ziller sieht aber noch weitere Komplikationen, die mit der Pandemie einhergehen: „Da ältere Menschen als Risikogruppe einzustufen sind, besteht die Gefahr, dass sie von der Allgemeinbevölkerung bevormundet werden. Ältere sollen zu Hause bleiben, niemanden mehr sehen und von ihrem sozialen Umfeld isoliert werden. Argumentiert wird dies damit, dass sich ältere Menschen durch das Pflegen von sozialen Kontakten einem erhöhten Risiko aussetzen. Dadurch wird nicht nur die Einsamkeit dieser Bevölkerungsgruppe verstärkt, sondern auch ihre Autonomie eingeschränkt. Diese Selbstbestimmtheit ist ethisch betrachtet aber ein hohes Gut.“

Paul Ziller, Allgemeinmediziner
Paul Ziller, Allgemeinmediziner © kk

In seiner Praxis erlebt Ziller Folgendes: „Die Anzahl der Patienten mit Angsterkrankungen nimmt zu.“ Bei Patienten, deren Angsterkrankung sich stabilisiert hatte, komme es zum erneuten Krankheitsausbruch – oder bestehende Symptome verschlechtern sich. Dabei beobachtet Ziller eine langfristig problematische Entwicklung: „Zunächst erfahren Menschen, die zu Ängsten neigen, im Lockdown eine kurzfristige Erleichterung – sie müssen sich stressigen Alltagssituationen nicht mehr stellen“, sagt Ziller. Dieses legitimierte Vermeidungsverhalten würde aber dazu führen, dass sich die Ängste weiter verstärken und ein Wiedereinstieg ins Alltagsleben umso schwieriger werde.

Auch Geriaterin Cronenberg beobachtet, dass manche Menschen in der Pandemie einen „Kontrollverlust“ erlebten und eine „Art Schockstarre“ entwickelten. Gleichzeitig gab es aber auch positive Signale für die Psyche: „Menschen erlebten nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft, auch traten andere Ängste wie jene vor Kriminalität in den Hintergrund“, sagt Cronenberg. Ärzte seien jedenfalls gefordert, ihre Patienten auch danach zu fragen, wie es ihnen in der Coronakrise gehe – um psychische Auswirkungen zu erkennen.

Trotzdem Kontakte pflegen

Ziller rät gerade älteren Menschen daher: „Es ist ganz wichtig, unter Einhaltung der Schutzmaßnahmen trotzdem soziale Kontakte zu pflegen.“ Da Ängste und Stress das Immunsystem unterdrücken, sollte man sich den angstmachenden Bildern aus den Medien auch nicht übermäßig aussetzen, sondern gezielt Informationen filtern. Auch ein gesunder Lebenswandel mit regelmäßigen Mahlzeiten, Bewegung an der frischen Luft und Hobbys die Freude machen helfen, mit Stress und Ängsten fertig zu werden.