„Die Welt ist aus den Fugen.“ So zitierte Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag im Dezember 2016 den „Hamlet“. Deutschlands Bundeskanzlerin stand derart unter dem Schock der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA, dass sie die landläufige Version dem Originaltext von Shakespeare vorzog. Der hatte 1600 bloß geschrieben: „Die Zeit ist aus den Fugen“. Das beschert der Welt immer wieder etwas Aufschub. Merkel blieb noch fast bis Ende 2021 – ein Jahr nach der Abwahl von Trump. Doch er tritt heuer wieder an und das ist ein Indiz, dass die Galgenfrist der Nachkriegsgesellschaft im Countdown-Tempo abläuft. Das Verhältnis von Politik, Medien und dem, was als Social Media firmiert, ist – aus den Fugen. Öffentlichkeit funktioniert nicht mehr. Die Grundlage der Demokratie schwindet.

Für österreichische Maßstäbe wirkt dieser Befund zu global, also bedingt relevant. Im EU-skeptischsten Staat der Europäischen Union nehmen Parteistrategien fast durchwegs mehr als andernorts Maß an Sportübertragungen: national, regional, irrational. Auf Basis des einst päpstlichen Irrtums von einer „Insel der Seligen“ bleibt Selbstgenügsamkeit die geistige Gemeinschaftswährung der Republik und Selbstgerechtigkeit das bevorzugte Reflexionsmittel vieler Exponenten. Ihre Paarung mit gnaden- und gewissenloser Polarisierung zur Publikumsmaximierung unterwandert die interne Gesprächsfähigkeit des angeblichen Gemeinwesens. Seine kleinlichen Heimspielen untergeordnete und somit schwindende externe Kommunikationstauglichkeit ist eine Folge davon. Die Hauptursache für den Qualitätsmangel der Öffentlichkeit bei gleichzeitigem Quantitätsgewinn an Mitrednern liegt an der zwiespältigen bis schizophrenen Verwendung von Social Media und der Kapitulation vor ihren Gesetzmäßigkeiten.

Die katastrophalen Folgen lassen sich am jüngsten Beispiel einer digital bis in die totale Verzweiflung gejagten Journalistin als grausige Chronik nachverfolgen. Doch sogar berechtigte Schuldzuweisungen im Anlassfall greifen zu kurz, wenn sie zunehmend dem Rechts-Links-Vorwürfe-Schema unterliegen. Der ideologisch getriebene Kampf um Diskurshoheit verdeckt tiefer liegende operative Konflikte bei der Nutzung von Social Media: Einerseits maximieren Politik- und Mediengrößen ihre Reichweite und Meinungsstärke. Sie fügen institutionell geliehener Macht ausgerechnet mit deren Hilfe Ich-Geltung hinzu, die zugleich Unabhängigkeit von der eigenen Organisation fördert. Das hat Donald Trump vor- und Sebastian Kurz ebenfalls schon 2016 so gemacht, gilt aber auch für viele ORF-Aushängeschilder und konkurrierende Journalisten von Privatsendern und Zeitungen mit großen Follower-Zahlen auf Facebook, Instagram, TikTok und X, vormals Twitter. Andererseits stoßen diese Stars in den digitalen Netzen auf eine überwiegende Mehrheit von Personen, die früher weniger oder kein allgemeines Gehör fanden und von denen eine enorme Majorität die neue Informations-, Kommunikations- und Artikulationsmöglichkeit verantwortungsvoll verwendet – sowohl unter wahrem Namen wie anonym.

Goßen Freveln wurde mit kleinen Sünden geantwortet

Doch Politik-Profis und Medien-Macher haben es verabsäumt, ihre angestammten Regeln hinreichend den Debatten-Debütanten zu vermitteln. Im Gegenteil: Social Media legte schonungslos offen, dass zu viele Mandatare und Journalisten den eigenen Wertekanon skrupellos verlassen, wenn es um den persönlichen Vorteil geht. Bei den schweren Verfehlungen mögen wirklich vor allem Vertreter der Politik und insbesondere Repräsentanten vom rechten Rand niederträchtig vorangeritten sein. Doch sowohl die sendungsbewusste Linke als auch die kontrollbeauftragten Medien haben dem zu wenig konform, konsequent und kontinuierlich entgegengewirkt. Stattdessen wurde den großen Freveln der parteilichen Gegenüber allzu oft mit kleinen Sünden geantwortet. Publizität ging über Prinzipien.

Den Schlüssel zur Publikumsmaximierung lieferte die Politik mit ihrer gnadenlosen Polarisierung. Die zynische Zeitungsregel „only bad news are good news“ findet auf Social Media Echtzeitbestätigung: Konflikt bringt Kundschaft. Die fatale Nebenwirkung des Vertrauensverlustes konnten Journalisten bei der Politik beobachten, haben ihn aber als Kollateralschaden akzeptiert. Die in den USA seit 1972 erhobene Medien-Glaubwürdigkeit war im Trump-Herbst 2016 auf den Tiefpunkt gesunken. Samt parteilicher Polarisierung: 2023 vertraute nur noch ein Zehntel der republikanischen, aber 58 Prozent der demokratischen Anhänger den Nachrichten von Zeitungen, Radio und Fernsehen. Die Polarisierung bietet auch Geschäftsmodelle für angesehene Blätter wie „New York Times“ und „Washington Post“.

Horse Race Journalism

Medien unterliegen wie Parteien in ihrer organisatorischen Positionierung der Personalisierung. Social Media sind Turbos dieser Selbstvermarktung. Mit ihnen geriet die von Colin Crouch schon vor 20 Jahren befürchtete Postdemokratie im Vorrang der Kommunikation gegenüber den Inhalten auf den Zenit. Das war keine Alleinschuld der Volksvertreter, sondern brauchte Vermittler: Neben Streit als Garant für Publizität erzeugt der wachsende „Horse Race Journalism“ in der politischen Berichterstattung ein Zerrbild dessen, worum es für das Gemeinwesen geht. 2023 wurden 80 Sonntagsfrage-Resultate zur Nationalratswahl publik. Sie und nicht Journalismus bestimmen das öffentliche Stimmungsbild. Doch so wie zu wenig hinterfragte Rankings von allem und jedem stärken sie letztlich bloß das Marketing, aber nicht die Qualität der betroffenen Institutionen – von Universitäten bis Krankenhäusern.

Parallel dazu wurde der Kommentarbereich auch in herkömmlichen Medien bedeutender – aufgrund ihrer Funktionsänderung in Richtung Einordnung und Orientierung. Doch der Ausbau einer ebenfalls  wichtiger gewordenen Bildungs- und Erklärungsfunktion konnte aus finanziellen Gründen nicht mithalten. Der Abfluss von Werbeausgaben zu Social Media gilt als Hauptursache für die materielle Medienkrise. Investitionen in Redaktionen sind der größte Kostenfaktor. Die Politik hat verabsäumt, Social Media zur Inhaltsverantwortung wie herkömmliche Medien zu verpflichten. Gäbe es sie, wäre das Geschäftsmodell von Facebook, X und TikTok tot. Wirkliche Content-Moderation ist sündteuer.

In dieser Gemengelage aus immer mehr Meinung, ständig weniger Wissen, mangelnder Regulierung und unbarmherzigem Tempodiktat war freiwillige Selbstkontrolle ein zu lange währender Lernprozess. Während auch verantwortungsvolle Profis sich erst gemächlich zu konfliktmindernder Zurückhaltung durchringen, ermöglicht das außer sich geratene Kommunikationsbiotop den raschen Aufstieg vor allem weit rechts stehender Plattformen wie Exxpress und Nius, hinter denen Milliardäre stecken. Sie betreiben skrupellos Krawallpolitik, gegen die früherer Boulevard wie ein Faserschmeichler wirkt – siehe die in Deutschland per Plagiatsvorwurf gejagte österreichische Journalistin. Hierzulande aber sogar mit staatlicher Medienförderung. Eine seltsame Nebenschiene zu Aktivitäten der Parteien, die nach Kurz‘ Facebook-Wettlauf mit Heinz-Christian Strache und neben FPÖ TV auf YouTube die digitale Auferstehung einstiger Organe zelebrieren – vom „Kontrast“-Blog der SPÖ bis zur-sache.at der ÖVP.

Auch „Schriftgelehrte“ folgen Fake-News-Schleudern

Angesichts solch umfassender Owned-Media-Strategien im Sog jener Politik, der klassische Sender und Blätter per Geringschätzung bis Missachtung begegneten, übte sich der Journalismus zu sehr in Haltung statt Demonstration des eigenen Andersseins. Die absehbar parteiliche Interpretation dieser Position lässt auch hierzulande viel Publikum aus herkömmlichen Medien abwandern, das sich dort wie die US-Republikaner nicht vertreten fühlt – aber nun vermeintliche Alternativen hat. Es ist nicht bloß der Pöbel, der von Parteien noch zu stark als Zielgruppe wahrgenommen wird. Auch immer mehr Schriftgelehrte biegen gesinnungsgeleitet zu handwerklich ständig besseren Fake-News-Schleudern ab. Der Journalismus macht unterdessen viel zu selten den Unterschied klar. Er erklärt sich nicht ausreichend, ist intransparent, wenig kritikfähig und ein Lehrling der Fehlerkultur.

Neben dem gesamtgesellschaftlichen Eliten- und dem politischen wie medialen Standesversagen ist abseitige digitale Kommunikation aber ein perfektes Auffangnetz nach der journalistischen Karriere. Lange bevor Ex-„Bild“ Chefredakteur Julian Reichelt zu Nius ging, etablierte Richard Schmitt nach Führungspositionen bei „Krone“, „Heute“ und „Oe24“ den eXXpress, den er soeben verlassen hat.

Gegen die technologisch getragenen und massenhaft individuell missbrauchten Rahmenbedingungen ist mit europäischen und staatlichen Regulierungen vom Digital Service Act bis zu Gesetzen kontra Hass im Netz nur wenig Kraut gewachsen. Das reicht nicht aus für eine funktionierende Öffentlichkeit, das zentrale Element der Demokratie. Sie benötigt neben Transparenz und Beteiligung, Verpflichtungen und Verboten auch gesellschaftliche Übereinkunft und Vorbilder. In diesem Fall passt die sonst fatale Analogie zum Sport: Um der Hooligans Herr zu werden, braucht es gemeinsame übereinstimmende Ächtung der Regelbrecher durch eine nicht mehr schweigende Mehrheit. Für Medien bedeutet das neben ihrer Forderung nach Bändigung der Plattformen durch die Politik auch manch mitunter schmerzvollen Rückzug. Das gilt für digitale Foren von Zeitungen, die journalistischen Qualitätsansprüchen widersprechen wie für das vormalige Twitter, wo Marco Pogo von der Bierpartei soeben Bundeskanzler Karl Nehammer überholt hat. Auch das ist ein Symbol für einen Wendepunkt.

Würden in Österreich schlagartig nur die jeweils zehn Politiker und Journalisten mit den meisten Verfolgern von X zu einer anderen Plattform wechseln, wäre das Kommunikationsspielzeug von Elon Musk hier umgehend irrelevant. Das wird nicht geschehen, weil sie zu viel in ihre einstigen Twitter-Auftritte investiert haben und es noch kein gleichwertiges Netzwerk gibt. Doch im globalen Superwahljahr 2024 benötigt nicht nur Österreichs Gesellschaft dramatische Veränderungen auf und gegenüber Social Media. Ansonsten wird spätestens zu Herbstende klar, dass Angela Merkel 2016 einen Fehlgriff tat, als sie „Die Welt ist aus den Fugen“ sagte. Passender ist schon heute ein noch drastischeres Zitat von „Hamlet“: Es geht um „Sein oder Nichtsein“ der Demokratie.

Peter Plaikner ist Politikanalyst und Medienberater