Sölden am Tag vor dem Rennen. Das Wetter wechselt, aber zwischendurch lockert sich die Bewölkung und lichtet sich der Nebel beinahe symbolhaft und gibt den Blick frei auf die frisch verschneiten Gipfel hoch über Sölden. Ganz nach dem Motto: Seht her, der Winter ist doch schon da. So sonnig wie das Wetter ist die Stimmung im Ort, fast 1200 Meter unter dem Zielgelände am Fuße des Rettenbachferner gelegen, nicht. Da kann auch die Baustelle im „Hotel Central“ darüber hinwegtäuschen. Das Fünfsternhaus wurde um zwei Stockwerke aufgestockt – 69 neue Betten und ein Luxus-Spa mit „Infinity-Pool“ entstehen. „Infinity“ steht für „Unendlichkeit“; die ist den Gletschern nicht vergönnt.

Insofern traf sie Wucht der Diskussion, die rund um die die Sinnhaftigkeit des Weltcup-Auftakts entstanden ist, Sölden unerwartet. Verstehen können hier die Wenigsten, warum man so plötzlich vom Abo-Hauptdarsteller des strahlenden Winterauftakts in die Rolle des schwarzen Schafs gedrängt wurde und wird. Eine Rolle, mit der man sich auch nicht anfreunden will. Schlechtes Gewissen? Keine Spur – man arbeite im Gegenteil daran, dass die Gletscher erhalten werden, der Schwund sei schließlich auch nicht im Interesse der Söldener, hört man immer wieder. Ebenso wie den Verdacht, dass eine Partei in Wien ihr politisches Klientel auf Kosten der Söldener bedienen wolle, dabei aber die Fakten verdrehe.

Der Ort, an dem sich entlang der Dorfstraße Bars, Restaurants, Geschäfte und Après-Ski-Schirme in großer Dichte abwechseln. erwacht gerade erst aus der kurzen Pause, die ihm seit dem Sommer gegönnt war. Es ist ruhig – und zu warm für die Jahreszeit. Daran haben auch der über Nacht eingesetzte Wind und der Regen im Tal (am Berg waren es etwas mehr als zehn Zentimeter Neuschnee) nichts geändert. Am Nationalfeiertag wähnte man sich nicht unbedingt in dem Ort, der nach Wien in Österreich die zweitmeisten Nächtigungen aufweist. 1,6 Millionen waren es allein im Winter in Sölden selbst, rechnet man Gurgl/Hochgurgl und das gesamte Gebiet der größten Gemeinde Österreichs hinzu, kommt man auf 2,2 Millionen. Der Tourismus ist Grundlage des Wohlstandes, der Skisport Lebensader; inklusive der Erschließung des Rettenbach- und des Tiefenbachferners auf rund 3000 Metern Seehöhe. Auf diesen beiden Gletschern findet derzeit Skibetrieb statt, „im Naturpark Ötztal haben wir aber 67 Gletscher“, erklärt Oliver Schwarz, Geschäftsführer des Tourismusverbandes.

Es hätte so schön sein können zum 30. „Geburtstag“ des Auftakts in den Skiwinter. Das Rennen hat sich schnell zum Klassiker gemausert. Und die Bilder – meist viel Sonne – erzeugten stets Emotion. Die wiederum habe die beste Werbewirkung, wird Jakob „Jack“ Falkner nicht müde zu erzählen. Der Vater des OK- und Berbahnenchefs war es einst, der mit dem Kauf eines pleite gegangenen Skilifts vor 75 Jahren den Grundstein zum Erfolg legte. Der war durchaus nachhaltig, ökonomisch betrachtet. Sölden und das Ötztal sind bestes Beispiel, dass der Skisport Teile Österreichs weit nachhaltiger verändert und geprägt haben als die industrielle Revolution.

Oliver Schwarz: „Wir leisten Sterbehilfe“

Plötzlich aber ist der Ort Zielscheibe und Symbol für das Versagen im Kampf gegen den Klimawandel. Auf dem schwindenden Gletscher Rennen zu fahren, „auf Biegen und Brechen“, wie es die Umweltministerin ausdrückte, ist im Jahr des Rekord-Oktobers und Rekord-Septembers nicht mehr konform. „Wir sind doch alle dafür, etwas für die Umwelt zu tun. Aber das führt zu weit. Irgendwas müssen sie uns noch lassen“, seufzt eine Hotelmitarbeiterin. Der TVB-Geschäftsführer sieht sich, also den Tourismus, schuldlos in der Kritik („Wir stellen ja nur die Quartiere“) und ortet durchaus die Bereitschaft, den Auftakt nach hinten zu rücken. Denn: danach habe man trotzdem ein Loch bis Mitte November. Nach Lust und Laune könne man das Rennen aber nicht abdrehen, das müsse jedem klar sein. Und, so beteuert man: Ohne das Erschließen für den Skisport ginge es dem Gletscher viel schlechter. „Wir leisten Sterbehilfe. Das heißt aber, dass wir den Gletscher bewahren, sein Sterben hinauszögern“, sagt Schwarz.

Mehr wird es auch nicht werden. Glaziologin Andrea Fischer stellt klar: „Ein Skigebiet beeinflusst die Schneeschmelze und die damit verbundenen Gletscherrückgänge nicht mehr. Man kann den Gletscher nicht mehr vor dem Menschen schützen.“ Dass die Rückgänge enorm sind, ist klar. Rund acht Meter an Dicke und über 30 Metern an Länge sollen diesen Sommer verschwunden sein. Dabei entdeckt man, dass der Gletscher sicher nicht immer „da“ war – und sein wird. Man könne, sagt Fischer, bereits berechnen, wie lange es bei steigenden Temperaturen dauert, bis die Gletscher abgeschmolzen sind. „Was wir nicht wissen, ist, welche klimatischen Rückkopplungen das dann hat.“

An sich ist man sich aber in Sölden wie auch bei den Athletinnen und Athleten im Weltcup einig: Wenn es der Zeitgeist erfordert und wünscht, könne und müsse man den Gletscherauftakt verschieben. Er dürfte seinen Zweck also erfüllt haben, könnte man daraus schließen. Und Sölden ja in zwei Wochen mit dem Slalom in Gurgl ein weiteres Rennen. Fraglich bleibt, wie der Ski-Weltverband FIS auf die anhaltende Kritik reagiert, die heute eventuell von der „letzten Generation“ sichtbar vorgebracht wird. In Sölden war das nicht zu klären. FIS-Präsident Johan Eliasch blieb dem Auftakt in Tirol fern. Er weilt in Monaco, auf der Fachmesse „Sportel“ – um die Weltcup-TV-Rechte auch nach Nordamerika zu verkaufen. .