In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung übt der frühere Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner heftige Kritik an ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz. 

"Es fehlt an Respekt gegenüber demokratischen und rechtlichen Institutionen", sagt Mitterlehner. Sollte Kurz wegen Falschaussage im Ibiza-Untersuchungsausschuss von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) angeklagt werden, rät der Ex-ÖVP-Chef seinem Nachfolger, "sein Amt ruhen zu lassen, bis die Angelegenheit entschieden ist."

Die derzeitigen Ermittlungen sind für Mitterlehner, der bereits vor zwei Jahren in einem Buch Bilanz über seine Ablöse als Parteichef durch Kurz gezogen hatte, "der Höhepunkt einer Entwicklung", die sich schon länger abzeichne: "Es fehlt an Respekt gegenüber demokratischen und rechtlichen Institutionen."

Kritik übt Mitterlehner daran, dass Kurz nicht an Rücktritt denkt: Es sei "neu, aber nicht überraschend", dass sich Kurz mit der Bewertung, er habe ein reines Gewissen, "gleichermaßen selbst die Absolution erteilt, also jedenfalls im Amt bleiben will". "Das finde ich schon im Hinblick auf den Ethik-Kodex der Partei nicht sonderlich stimmig", so Mitterlehner. 

"Problematisches Verhältnis zum Rechtsstaat"

Zum Rücktritt auffordern will Mitterlehner den Bundeskanzler nicht. Im Fall einer Anklage würde er Kurz raten, sein Amt ruhen zu lassen. Es gelte die Unschuldsvermutung und "es wäre ja möglich, dass er freigesprochen wird".

Das Argument, es handle sich bei dem Verfahren um eine Kampagne der Opposition, lässt der frühere ÖVP-Chef nicht gelten: Die Staatsanwaltschaft sei nicht die Opposition. Kurz habe "den Spieß in bewährter Form umgekehrt, sieht sich in der Opferrolle und behauptet, alle wollten ihn weghaben", befand Mitterlehner. "Die Wahrheit ist eine andere: Noch ist die Justiz unabhängig, und sie ermittelt."

Den Vorschlag von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP), die Wahrheitspflicht im U-Ausschuss abzuschaffen, sieht Mitterlehner mit Sorge. "Auch dass der Bundespräsident vom Verfassungsgericht um Unterstützung gegenüber dem Finanzminister angerufen werden muss, ist mehr als irritierend." Die aktuelle Regierung "hat ein problematisches Verhältnis zum Rechtsstaat", findet der Ex-Vizekanzler.

Auch Doskozil erwartet bei Anklage Rücktritt von Kurz

Sollte gegen Kurz Anklage erhoben werden, erwartet sich auch der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ), dass dieser "wie ein Staatsmann reagiert", also zurücktritt. Jeder müsse in dieser Rolle selbst hinterfragen, ob er das richtige gemacht habe, meinte er am Rande einer Pressekonferenz. Nur der Bundeskanzler werde zum jetzigen Zeitpunkt wissen, was im Hintergrund bei den Casinos oder bei ÖBAG-Postenbesetzungen passiert sei.

Angesprochen auf die Ermittlungen der WKStA gegen ihn selbst wegen Verdachts der Falschaussage im Commerzialbank-U-Ausschuss, meinte Doskozil: "Jeder muss für sich selbst beurteilen, was der Gegenstand der Ermittlungen ist."

Es sei "sehr einfach" und eine verkürzte Darstellung, die beiden Fälle gemeinsam zu nennen: "Man muss schon auf die Sachebene runterkommen. Es ist ein Unterschied, wenn ich darüber diskutiere, wer hat auf die grüne Taste beim Telefon gedrückt", oder über Absprachen bei den Casinos und bei Postenbesetzungen. "Da würde ich mir schon erwarten, dass man das journalistisch bewertet." Doskozil verwies auf den hohen Maßstab der Glaubwürdigkeit in der Politik: "Und ich weiß, wie ich den Maßstab der Glaubwürdigkeit auszulegen habe."