Christoph Grabenwarter, Präsident des Verfassungsgerichtshofs, ist nicht begeistert von dem Vorschlag, den die Koalition soeben überraschend vorgelegt hat: Er und seine Kollegen sollen in Zukunft "dissenting opinions" publizieren dürfen, wenn sie sich mit ihrer Rechtsmeinung nicht durchgesetzt haben.

"Ich war immer schon skeptisch gegenüber diesem Vorschlag", sagt Grabenwarter in der "zib2" - und diese Meinung habe sich nur noch verfestigt. "Wir arbeiten als ein Kollegium - unser Ziel ist eine gemeinsame, einheitliche Entscheidung".

Aber von vorne: Hat das coronabedingte Distance Learning gegen das Grundrecht der Schüler auf Bildung verstoßen? War es mit dem Datenschutz vereinbar, dass Wirte im Herbst die Daten ihrer Gäste sammeln und bei Verdachtsfällen den Behörden übermitteln mussten? Und war es gerechtfertigt, dass zwangsweise verlängerte Zivildiener vergangenes Jahr anders entlohnt wurden als „außerordentliche“, die sich in der Krise freiwillig zu einigen Monaten Zivildienst gemeldet hatten?

Die 14 Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes können derzeit nicht über Unterbeschäftigung klagen: Gut 350 Fälle beraten die Richterinnen und Richter in ihrer März-Session, die diese Woche begonnen hat. Mehr als die Hälfte davon betrifft Beschwerden gegen Maßnahmen in der Coronakrise und ihre Folgen wie die eingangs genannten.

Aber auch „normale“ Fälle stehen zur Entscheidung an: Etwa, ob Drogeriemärkte wirklich keine Medikamente anbieten dürfen oder ob ein Kuh-Kostüm als Protest gegen Massentierhaltung nach dem (eigentlich gegen muslimische Burkas und Tschadors in Stellung gebrachten) Antigesichtsverhüllungsgesetz verboten war.

Fälle, über deren Verfassungsmäßigkeit – bzw. über jene der Gesetze dahinter – am Ende der Beratung 14 Richter abstimmen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auf Vorschlag von Regierung und Parlament ernannt worden sind. Allesamt hochdekorierte und erfahrene Juristen, die aber bei ihrer Bestellung regelmäßig auf dem Ticket einer Koalitionspartei ernannt worden sind.

Das unpolitische politische Gericht

Derzeit steht das „Kräfteverhältnis“ unter den Höchstrichtern bei sieben von der ÖVP gewünschten, vier von der SPÖ, zwei von der FPÖ und einem grünen Mitglied. Ein Verhältnis, das aber nicht direkt auf die Rechtsprechungen durchschlage, wie der Gerichtshof und viele Experten versichern: Die (großteils nebenberuflichen) Richter sind abgesichert, weil sie bis zum Alter von 70 Jahren fix im Amt bleiben. Außerdem sind Beratungen und Abstimmungen derzeit geheim.

Das soll sich nun ändern – zumindest zum Teil. In ihrem Transparenzpaket, das die türkis-grüne Koalition diese Woche in Begutachtung geschickt hat, ist auch die Möglichkeit vorgesehen, dass Verfassungsrichter in Zukunft „dissenting“ oder „concurring opinions“ als „Sondervotum“ veröffentlichen.

Damit wäre ein Prinzip aus der Welt, das das Höchstgericht seit seiner Einrichtung vor 100 Jahren prägt: die Einheit des Gerichts. Egal, wie knapp eine Abstimmung ausgeht (das Knappestmögliche ist sieben zu sechs Stimmen, der Präsident stimmt normalerweise nicht mit), die einzige im Erkenntnis veröffentlichte Rechtsmeinung ist die, die sich durchsetzt.

"Nicht generell gut oder schlecht"

Das ist in vielen Staaten anders: Wie etwa am US-Supreme Court sollen auch Österreichs Verfassungsrichter künftig unter eigenem Namen Ergänzungen oder Widersprüche mit veröffentlichen dürfen.
Unter Juristen stößt das auf Zu- und Widerspruch: Einerseits würde es der Rechtswissenschaft nutzen, auch Gegenargumente ausgeführt zu bekommen, sagt der Grazer Staatsrechtsprofessor Klaus Poier – andererseits würde der VfGH so mit einem Mal nicht mehr als mit einer Stimme sprechendes Gericht wahrgenommen, sondern eben als ein weiteres Gremium, das mit Mehrheit entscheidet.

Auch der Innsbrucker Verfassungsjurist Peter Bußjäger zeigt sich skeptisch: Die Möglichkeit, Sondervoten abzugeben, könnte den Druck auf Richter erhöhen, ihre „Loyalität“ zu beweisen, indem sie entlang von Parteilinien argumentieren.

Neutral sieht es Verfassungsrechtsprofessorin Anna Gamper: „Man kann nicht generell sagen, dass Sondervoten schlecht oder gut sind“ – es hänge vom Kontext ab, der Verfassungskultur, der Unabhängigkeit der Gerichte und der politischen Landschaft.