Es war Freitag, der 13. März - und die Bundesregierung löste ein gewaltiges Chaos aus. An diesem Tag haben Bundeskanzler Sebastian Kurz, Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) nicht nur das weitgehende "Herunterfahren" des öffentlichen Lebens in Österreich verkündet, sondern auch die Absperrung zweier Tiroler Urlaubsregionen, von St. Anton und dem Paznauntal.

Eine Ankündigung, die weitreichende Folgen haben sollte: "Durch die mediale Verbreitung der Ankündigung der Quarantäneverhängung kam es in den betroffenen Gebieten bei Gästen und Mitarbeitern der Tourismusbetriebe zu Panikreaktionen, weil allgemein befürchtet wurde, in kürzester Zeit nicht mehr das Tal verlassen zu können", heißt es in dem Bericht der Expertenkommission zum Corona-Hotspot Ischgl, der heute veröffentlicht worden ist.

Die Kommission geht besonders mit dem Kanzler hart ins Gericht: Die Maßnahme sei erst im Lauf des Vormittags jenes Freitags aufgekommen ("in den Stäben", wie es Kommissionsvorsitzender Ronald Rohrer formuliert) - und bei weitem noch nicht ausreichend vorbereitet gewesen: Auskunfstpersonen hätten der Kommission geschildert, dass Touristen praktisch "in den Skischuhen" zu ihren Autos gerannt wären, die gesamte Abreise aus dem zu diesem Zeitpunkt rund 17.000 Menschen zählenden Skiort sei chaotisch verlaufen.

"Überraschende Ankündigung ohne substantielle Vorbereitung"

15 Kilometer lange Staus waren die Folge. "In den stundenlangen Wartezeiten mussten die betroffenen Personen von der Feuerwehr und dem Roten Kreuz versorgt werden. Personen, bei denen zumindest der Verdacht einer Infektion bestand, waren in Fahrgemeinschaften und Autobussen zusammengedrängt", heißt es in dem Bericht. Ein Busunternehmer führt seine Infektion mit auf eine sechsstündige Wartezeit in einem vollbesetzten Bus zurück.

"Die Ankündigung der Quarantäne über das Paznauntal und St. Anton a. A. durch den österreichischen Bundeskanzler erfolgte ohne dessen unmittelbare Zuständigkeit, überraschend und ohne Bedachtnahme auf die notwendige substantielle Vorbereitung. Die dadurch bewirkte unkontrollierte Abreise hat eine sinnvolle epidemiologische Kontrolle behindert", so die Kommission weiter.

Aus dem Bundeskanzleramt verweist man auf die unübersichtliche Situation und schnelle Entwicklung in jenen Märztagen. Es sei zwar korrekt, dass der Kanzler nicht zuständig für die Quarantäne gewesen sei, aber gemeinsam mit Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) habe man Kommunikation aus einer Hand vereinbart - eben durch die Bundesregierung, heißt es zur Kleinen Zeitung.

Ronald Rohrer, der ehemalige Vizepräsident des OGH und Leiter der Expertenkommission zu Ischgl
Ronald Rohrer, der ehemalige Vizepräsident des OGH und Leiter der Expertenkommission zu Ischgl © APA/EXPA/JOHANN GRODER

Auch BH und Bürgermeister unter scharfer Kritik

Gravierende Fehler sieht der Bericht der Kommission aber auch an Ort und Stelle: Die zuständige Bezirkshauptmannschaft Landeck etwa habe "die Verdachtslage und die Testergebnisse betreffend Mitarbeiter und Gäste des Après-Ski-Lokals ,Kitzloch' falsch als abgrenzbares Ereignis eingeschätzt", heißt es in einem Bericht: Spätestens mit 9. März sei klar gewesen, dass die Après-Ski-Lokale geschlossen hätten werden müssen, auch die Gefährlichkeit von Gondeln und Skibussen sei evident gewesen.

Die Lokale durften aber - trotz zahlreicher Meldungen bestätigter Infektionen aus dem In- und Ausland - bis 10. März offen bleiben, die Skigebiete bis 12. März.

Vielleicht sogar strafrechtliche Konsequenzen könnte das für den Bürgermeister von Ischgl haben, Werner Kurz: Er hat die Verordnung, mit der die Skigebiete dann schließlich doch geschlossen wurden, nicht sofort an der Amtstafel kundgemacht - und die Schließung damit um mehr als einen Tag verzögert, so die Kommission. Das mag damit zusammenhängen, dass die Gemeinde als größter Aktionärs der Silvrettaseilbahn ein wirtschaftliches Interesse an einem fortgesetzten Betrieb hatte. Die Kommission hat diesen Sachverhalt bei der Staatsanwaltschaft angezeigt.

Land kommunizierte "unwahre Aussagen"

Das Land Tirol selbst kommt in dem Bericht vergleichsweise glimpflich davon: Zwar habe die Landespressestelle "unwahre und damit schlechte" Informationen ("Ansteckung von Gästen im Kitzloch unwahrscheinlich") kommuniziert und der eigentlich zuständige Landesrat Günther Tilg seine Aufgaben ohne rechtkliche Grundlage an den Landesamtsdirektor übertragen, ein "unmittelbarer Einfluss dieser Vorgangsweise auf die Geschehnisse" könne aber nicht festgestellt werden.

Bis 9. März habe es seitens des Landes Tirol aber keine "zielgerichtete Strategie der Pandemiebekämpfung" gegeben, so die Kommission.

Kritik setzt es auch am Gesundheitsministerium: Das noch aus der Monarchie stammende Epidemiegesetz "wurde weder - für die nachgeordneten Behörden erkennbar - auf seine Anwendbarkeit in Tourismusgebieten geprüft, noch wurden rechtzeitig Schritte eingeleitet, das Gesetz den Gegebenheiten der heutigen Mobilität anzupassen. Dadurch wurden die Bezirksverwaltungsbehörden in ihrer Entscheidungsfindung nicht unterstützt und das erforderliche rasche Eingreifen behindert", schreibt die Kommission.

Anschobers Gesundheitsministerium verweist in einer Aussendung, dass man sich "aufgrund der umfassenden inhaltlichen Neuerung durch die COVID-Pandemie zu einem zeitlich befristeten und spezifischen COVID-Maßnahmengesetz" habe, statt das Epidemiegesetz zu erneuern.

Verbraucherschützer: 6.170 Infektionen

Die Folge all dieser Fehltritte könnten tausende Ansteckungen mit dem Coronavirus auf der ganzen Welt sein. Der Verbraucherschutzverein VSV von Peter Kolba (bekannt als ehemaliger Liste Pilz-Klubobmann) verzeichnet mit Ende September 6.170 Infektionen weltweit, die sich auf Ansteckungen in jenen Tagen in Tirol zurückverfolgen lassen.

Kolba betreibt mehrere Amtshaftungsklagen, um Entschädigung für die Erkrankten - zu erwirken. Zumindest 30 Todesfälle sollen sich auf über Tirol verbreitete Ansteckungen zurückführen lassen.