Mit heißer Feder hat Reinhold Mitterlehnersein Buch „Haltung“ geschrieben. Für uns heute ist nur seine Schilderung der Endphase der Zusammenarbeit von SPÖ und ÖVP spannend. Die Sicht der glücklosen Führung der ÖVP von 2014 bis 2017 steht im Zentrum seines Buches: immer noch tief gekränkt von seinem plötzlichen, aber nicht überraschenden und (nicht ganz) freiwilligen Abgang und von der ihm später versagten „Versorgung“ als Präsident der Österreichischen Nationalbank.

Die größeren Zusammenhänge will er dabei offensichtlich nicht sehen. Im Mittelpunkt steht der Machtwechsel von ihm zu Sebastian Kurz. Sein Scheitern an Faymann und die Brüskierung durch Kern diskutiert er nicht. Das Buch ist seine Form der Message Control. Er weiß: „wer schreibt, bleibt!“

Als sich Michael Spindelegger zurückzog, wurde Mitterlehner Chef der ÖVP. Schon damals war Sebastian Kurz eine Alternative vieler Funktionäre und „Granden“. Kurz hörte aber auf den Rat Älterer und nahm sich selbst aus dem Spiel – seine Geduld hatte Ursache.

Mitterlehner erlebte zuerst euphorische Zeiten. Man erwartete sich von ihm Wunder, die er nicht wirken konnte. Auch er zerschellte in den Endjahren der einst großen Koalition zuerst am erstarrten Partner Werner Faymann, dann am listenreichen Christian Kern. Im Jahre 2006 war die Große Koalition wiederbelebt worden. Sie sank schnell zur mittelgroßen Koalition herab, als sie die Verfassungsmehrheit im Nationalrat verspielte, und verkam dann zur Streitkoalition im Reformstau. Reinhold Mitterlehner versuchte einen Neustart. Er scheiterte, weitgehend schuldlos. Seine drei Jahre waren nämlich die Endphase der Jahre des Stillstands und des Übergangs von 2006 bis 2016. Diese Jahre waren zuerst von der Finanz- und Eurokrise geprägt. Von der EU zu den richtigen Maßnahmen gedrängt, konnte die Regierung die Krise meistern – allein wäre der zur täglichen Routine gewordene Zank Vater halbherziger Lösungen geworden.

Es war die Zeit der Uneinigkeit, der öffentlichen Vernaderung, des Misstrauens, und des Reformstaus. Mitterlehner ereilte das gleiche Schicksal wie seine Vorgänger Molterer, Pröll, Spindelegger – alles bestens qualifizierte Berufspolitiker. Was seit 2006 verschleppt und von ihnen allen in heißem Bemühen angestrebt worden war, widersprach grundlegenden SPÖ – Überzeugungen: Abbau des Hochsteuerstaats, sachgerechte Ausgestaltung des von Mitnahmeeffekten und Missbrauch geprägten Sozialsystems, Verwaltungsreform und Bürokratieabbau im überbordenden Staat, Ende der Neuverschuldung und Schuldenabbau, Anerkennung von Leistung, Pflege des Wirtschaftsstandorts.

Diese Reformagenda war nicht umsetzbar – der SPÖ Bundeskanzler konnte das in seiner Partei nicht durchsetzen. Ein linker Flügel stritt mit einem rechten um die Linie der Partei: als Streitsymbole seien nur der die missglückte Schulreform und der endlose Kampf um die Wiedereinführung der Vermögenssteuer genannt. Bundeskanzler Werner Faymann war von seinen schlechten Wahlergebnissen bei den Obmann Wahlen in der SPÖ getrieben und beherrscht: den einen war er zu links, den anderen zu rechts – am Ende stand das Nichtstun, und damit der Reformstau.

In den kurzen Monaten von Christian Kern stieg zuerst die Hoffnung auf einen wirtschaftsnahen Reformer. Zu seinem Angebot auf eine Reformpartnerschaft gab Mitterlehner von der Ministerbank aus seine freudige Zustimmung. An Stelle der Reformpartnerschaft überrumpelte Kern aber die ÖVP mit seinem Coup des Plan A. Ohne mit dem Partner verhandelt zu haben, legte der SPÖ Chef in einer großen Show seinen Genossen seinen Reformplan vor – und stellte Mitterlehner ein Ultimatum. Nimm den Plan an, oder Neuwahlen! Mitterlehner akzeptierte die Brüskierung, verhandelte, ein Programm wurde beschlossen – es ging in Streit und Hader unter, wie alles Vorhergehende. Diese Entwicklung und die Übertölpelung durch Kern und die SPÖ scheint Mitterlehner bewusst zu übersehen. Diese, und nicht Kurz versenkten ihn.

Mitterlehner war angetreten, um zu verändern. Er nahm Kurz in sein Kabinett als Außenminister auf. Es gab zuerst eine Planung der beiden Politiker für die Wahlen 2018: Wer die besseren Chancen hat, tritt an. Die ablaufenden Entwicklungen vernichteten aber ab Kerns Ultimatum die Chancen Mitterlehners. Kern hatte unbeabsichtigt mit seinem Vorgehen gegen den Vizekanzler gleichzeitig seine eigene Überlebensversicherung gekündigt. Als dessen Chancen sanken, zog Kurz davon. Die Meinungsforschungsziffern der Jahre 2016 und 2017 sind unbestritten: Die FPÖ in unangefochtener Führung mit bis zu 35 Prozent, die SPÖ bei 28 und die ÖVP gegen 20, manchmal sogar darunter. Kurz lag gleichzeitig im Dauer – Hoch: 32 Prozent für eine ÖVP unter seiner Führung, das dauerte die Jahre 2016 und 2017 an. Kern hätte gemeinsam mit Mitterlehner siegen können. Er wollte aber allein gehen. Mit seinem Plan-A-Torpedo versenkte er den ÖVP-Chef und sich selbst.

Vor diesen unbestrittenen Fakten verblassen alle behaupteten Intrigen, haben sie nun so stattgefunden oder nicht. Mitterlehner diskutiert aber nur sein vielschichtiges Verhältnis zu Kurz, nicht zu Kern! Als klar wurde, mit Kurz hätte die ÖVP endlich wieder eine Chance, ihre Reformagenda umsetzen, war Mitterlehners Schicksal besiegelt. So war auch seine grundsätzliche Abmachung gewesen, welche die Parteispitze kannte. Nur das Ende, eingeleitet vom „stalking horse“ Sobotka, konnte überraschend sein. Aber nicht unbegründet, denn spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte die SPÖ erkannt, dass ihr Gegner Kurz sein werde, und alles Feuer auf ihn konzentriert!

Was Mitterlehner in seinem Buch auch rügt, ist die planmäßige Vorbereitung von Kurz auf seine Obmannschaft – aber das konnte wohl niemanden überraschen. Sollte er antreten, so musste er wohl vorbereitet sein, alles andere wäre fahrlässig gewesen! Mitterlehner kritisiert auch die von Kurz verfolgte Politik. Nicht mit den scharfen, weit überzogenen Worten, zu denen er sich bei der Buchpräsentation hinreißen ließ. Für Spitzenleute hat sich der Grundsatz bewährt: kritisiere nie deinen Vorgänger und deinen Nachfolger. Daran hat sich Mitterlehner nicht gehalten.

Einige Wort dazu. Nicht Kurz hat die FPÖ salonfähig gemacht, sondern der Wähler. Wäre nicht Kurz in den Ring gestiegen, wäre Strache wohl 2018 Wahlsieger geworden. Die türkis-blauen Reformen können sich sehen lassen – sie entsprechen in Vielem den Programmen, die die ÖVP seit Alois Mock umzusetzen suchte. Für den Populismusvorwurf gilt der Satz von Ralf Dahrendorf: populistisch ist immer das, was der politische Gegner macht.
In der Politik, so meinte einst Alois Mock, liegen das Hosanna und das Crucifige sehr nahe beinander. Das musste auch Reinhold Mitterlehner erfahren: angetreten mit einem beispiellosen Hype, scheiterte er und zog er sich verbittert zurück. Ich wünsche ihm, dass er sich die Bitterkeit und den Ärger von der Seele schreiben konnte, und jetzt auch nicht darunter leidet, dass er von den Gegnern der ÖVP als Waffe gegen „seine“ ÖVP verwendet wird.