Am Dienstag gab es in Paris den Mini-Gipfel mit Sebastian Kurz, Emmanuel Macron, Angela Merkel und den EU-Spitzen Michel und von der Leyen. Anlass waren die Terrorattacken der jüngsten Zeit. Hat Europa diese Gefahr unterschätzt?
MANFRED WEBER: Europa ist vor allem durch islamistische Terrorgruppen stark unter Druck. In den letzten 22 Monaten wurden 119 Terroranschläge in Europa verübt. Fast jedes Land kennt die Bedrohung. Aber es ist leider richtig, dass das Thema von der Tagesordnung verdrängt wurde. Wir von der EVP wollen aber, dass das ein Top-Thema auf der Agenda bleibt. Es reicht nicht immer nur, dann zu antworten, wenn ein Anschlag passiert ist.

Der Hauptansatzpunkt von Kurz und den EU-Spitzen ist neuerlich der Schutz der Außengrenzen. Mit Ausnahme des Attentäters von Nizza waren in jüngster Zeit alle Täter längst im Land oder, so wie in Österreich, sogar hier geboren. Schauen wir da nicht in die falsche Richtung?
Der EU-Außengrenzschutz ist wichtig, das möchte ich ausdrücklich betonen. Wer über Terror redet, muss als ersten Punkt die Frage der Radikalisierung aufwerfen. Was läuft schief in unseren Gesellschaften, wenn sich – vorwiegend junge – Menschen beispielsweise im Netz für diesen radikalen Islamismus begeistern? Die Frage muss sich die gesamte Gesellschaft stellen. Deradikalisierung ist zentral. Da ist auch der Staat gefordert. Das Terror-Propagandamaterial, das die Menschen online motiviert und mobilisiert, hat dort nichts verloren, da braucht es eine europaweite Regelung, das umgehend aus dem Netz zu entfernen. Die Regeln der realen Welt – etwa, was gedruckt publiziert werden darf und was nicht – die müssen auch in der digitalen Welt umgesetzt werden. Die Online-Content-Rechtssetzung liegt seit zwei Jahren im Europäischen Parlament und im Rat auf dem Tisch, die ist leider bisher durch Liberale und Sozialdemokraten blockiert worden. Jetzt ist wieder Bewegung drinnen. Das Propaganda-Material muss in kürzester Zeit verschwinden. Wenn Frankreich einen Server in Österreich ausmacht, muss die Amtshilfe in Europa funktionieren.

Die rasche Löschung von Inhalten, innerhalb einer Stunde, war schon ein Vorschlag der Juncker-Kommission 2018. Ist so etwas überhaupt realistisch?
Das muss möglich sein, die Frage stelle ich mir gar nicht. Da sind auch die Internetunternehmen in der Pflicht. Wenn der Wille da ist, geht das auch technisch. Eine Stunde ist in der digitalen Welt eine Ewigkeit, wir müssten sogar noch schneller werden.

Am Freitag haben wieder die EU-Innenminister getagt. Diese Woche hat es schon Aufregung gegeben, weil sie offensichtlich darüber nachdenken, elektronische Hintertüren bei verschlüsselten Nachrichtenprogrammen wie WhatsApp einzuführen. Datenschützer schlagen Alarm. Wie kann es gehen, einerseits technische Möglichkeiten auszuschöpfen und andererseits den Großer-Bruder-Staat zu vermeiden, der alle Bürger überwacht?
Wer die europäische Art zu leben erhalten will mit allen ihren Freiheiten, der muss sich dem Gegner stellen, das sind zum Beispiel radikale Islamisten. Datenschutz hat eine große Bedeutung, darf aber nicht kaum überwindbare Hürden für die Strafverfolgungsbehörden aufbauen, wenn sich der Terror in Europa ausbreitet. Für diesen Gegner darf es keine geschützten Räume geben, das gilt bis in eine private Wohnung. Man darf sie durchsuchen, wenn man einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss hat und wenn es einen Anfangsverdacht gibt. Das ist durch Grundgesetze und die europäische Rechtslage geschützt. Das Gleiche gilt aber auch im digitalen Raum. Natürlich braucht das auch einen richterlichen Entscheid und einen Anfangsverdacht.

Sebastian Kurz hat klar ausgedrückt, dass er ein konsequenteres Vorgehen bei „tickenden Zeitbomben“ will, gemeint sind Gefährder, die aus der Haft entlassen werden wie der Täter in Österreich. Aber welchen Apparat brauchen wir, um das umzusetzen? Ein Verein reicht offensichtlich nicht aus.
Wir brauchen eine Stärkung und engere Kooperation der Behörden, keine Frage. Wer Gefährder besser überwachen will, braucht besser ausgestattete Polizei und Geheimdienste, das kostet auch Geld. Wir brauchen auch endlich die zentrale Gefährderdatei in Europa, die verbindlich eingepflegt wird. Ich sage Ihnen ein Beispiel: wenn heute ein Gefährder überwacht wird in Salzburg von den österreichischen Behörden und der kommt nach Traunstein rüber, nach Bayern, dann ist es manchmal Zufall oder hängt vom persönlichen Kontakt der zuständigen Polizeidienststellen dies- und jenseits der Grenze ab, dass der bayerische Polizist Bescheid weiß. Wenn der ihn aufgreift, hat er im Regelfall wenig Daten. Wir brauchen eine Stelle in Europa, in der alle diese Daten registriert sind. Bei Schengen ist es ja so, dass das alles freiwillig passiert – das muss verbindlich sein! Es gibt viele Fälle, wo das nicht funktioniert hat, das muss ein Weckruf sein!

Etias, das europäische Esta, braucht immer noch zwei Jahre bis zur Einführung. Das ist das elektronische Registrierungsformular für alle, die von außerhalb in die EU einreisen wollen. Warum dauert das alles in Europa so lange?
Die Kritik teile ich, da gibt es vieles zu verbessern. Wir sind als Europäer oft Gefangene unserer Entscheidungsmechanismen, man muss alles immer mit 27 Staaten abklären, das gilt besonders bei operativen Sachen, etwa bei der Vernetzung von Daten, vor dem Hintergrund eines natürlich zu berücksichtigenden Datenschutzes. Das ist mühsam. Wir erleben das ja auch bei den CoronaApps, bis die einmal vernetzt werden. Die Geschwindigkeit muss höher werden. Da würde ich mir aber auch wünschen, die Behörden mit mehr exekutiver Macht auszustatten. Europol zum Beispiel: die haben in diesen Fällen überwiegend koordinierende Tätigkeiten. Sie können Daten sammeln und austauschen, aber haben kaum Ermittlungskompetenz. Beim Kampf gegen Falschgeld geht das inzwischen schon. Natürlich immer in Abstimmung mit nationalen Behörden. Wenn es um grenzüberschreitende Strukturen geht, brauchen wir auch grenzüberschreitende Ermittlungskompetenz.

Die Kommission stellt Pläne vor für eine Neuordnung des Schengenraums und die Innenminister arbeiten an konkreten Maßnahmen. Was müssen die nächsten Schritte sein?
Rasch radikalisierende Inhalte im Netz löschen, Gefährderdatei und natürlich die Stärkung der Außengrenze, das muss auch der Hauptpunkt der Schengen-Überarbeitung sein. Zentrale Frage ist, ob wir auch die Kraft haben, endlich zu europäischen Entscheidungsstrukturen an den Außengrenzen zu kommen. Derzeit sind die nationalen Behörden zuständig, Frontex nur beratend. An der griechischen Grenze kontrollieren griechische Beamte. Wir sollten Frontex endlich das Kommando übergeben, natürlich auch hier in Kooperation. Wer im Inneren Europas die offenen Grenzen erhalten will – das haben wir bei der Migration erlebt und jetzt beim Terror – der muss nach außen hin eine einheitliche Umsetzung der Standards gewährleisten. Ich bin da übrigens schon überrascht und enttäuscht, wir hatten ja gerade die Debatte um den EU-Haushalt und da war an sich die Stärkung von Frontex klares Ziel; die Staats- und Regierungschefs haben dann aber bei ihrer Juli-Vereinbarung das massiv zusammengekürzt. Wir haben im Parlament einiges repariert, für Frontex wurden noch einmal drei Milliarden Euro draufgelegt. Der Rat hat da nicht konsequent gehandelt.

Beim Budget ist ja diese Woche der Durchbruch gelungen. Ist die Rechtsstaatlichkeit so verankert, wie Sie sich das gewünscht haben?
Ja. Das ist ein historisches Ergebnis. Wer Geld von der EU will, muss die Unabhängigkeit der Medien und der Justiz garantieren, da haben Kommission und Rat jetzt auf europäischer Ebene eine scharfe Waffe zur Hand. Den Staats- und Regierungschefs ist das nicht gelungen. Da war alles wachsweich formuliert, Orban und Rutte waren zufrieden und wenn beide das sagen, dann stimmt da was nicht. Das Parlament hat weiter Druck und das wieder gut gemacht. Der Testfall wird Polen sein, da haben wir bereits die Diskussion um die Unabhängigkeit der Justiz. Insgesamt sind es sind gute Tage jetzt. Wir haben uns bei den Finanzen geeinigt, wichtige Ausgabenbereiche aufgestockt. Dazu gehört auch das neue Gesundheitsprogramm der EU, Kampf gegen Corona, Kampf gegen Krebs. Auch die Forschung wurde gestärkt. Eine Hürde haben wir noch, das ist die Rechtsgrundlage für das 750-Milliarden-Euro Recovery-Paket. Die ist noch in der Gesetzgebungsphase, da geht es noch um einen wichtigen Punkt, die Konditionalität. Gelder aus diesem Fonds soll es aus unserer Sicht nur geben, wenn die Mitgliedsstaaten ihre Probleme zuhause anpacken. Ein Beispiel ist Spanien: Die Regierung von Premier Sanchez wird viel Geld bekommen aus diesem Fonds, wir unterstützen das auch, aber sie müssen auch zu Hause an der Renten- und Gesundheitsreform arbeiten, damit Spanien wieder auf einen Wachstumspfad zurückkommt. Das wird noch ein hartes Stück Arbeit.

Muss man sich nicht trotzdem sorgen, dass Viktor Orban da allen in die Parade fährt? Er hat schon wieder mit Veto gedroht...
Es gibt Signale aus Ungarn, die sorgenvoll stimmen. Deshalb würde ich Viktor Orban gerne in der Sache überzeugen. Wir werden mit so einem Mechanismus ja endlich rauskommen aus der politischen Debatte um den Rechtsstaat. Die Frage, ob die Unabhängigkeit der Justiz eingehalten wird, darf keine parteipolitische Frage sein. Das ist im Kern eine Rechtsfrage, die auch Gerichte entscheiden müssen. Wenn es in Deutschland eine Rechtsfrage gibt, dann entscheidet ja auch nicht der Bundestag, sondern das Bundesverfassungsgericht. Die EU-Kommission muss analysieren, sie hat kürzlich auch erstmals einen umfassenden Rechtsstaatsbericht über alle Mitgliedsländer vorgelegt. Das ist eine neutrale Grundlage, und wem das nicht passt, der kann vor Gericht gehen. Das kann ja nur im Interesse von denen sein, die sich ungerecht behandelt fühlen, also etwa Viktor Orban.

Wie ist denn der Stand innerhalb der EVP? Orbans Fidesz ist ja nach wie vor suspendiert.
Ja, Fidesz hat keine Mitglieder in Parteigremien und kein Abstimmungsrecht in der EVP, da haben wir starke Konsequenzen gezogen. Wegen Corona konnten wir die Frage nicht entscheiden, ob sie Mitglied bleiben oder nicht. Das war für September vorgesehen und wird jetzt über den Winter hinweg nicht zu entscheiden sein, da braucht es physische Anwesenheit.

Sehen Sie die Fidesz eher noch bei der EVP?
Dass wir viele offene Fragen damit haben, weiß jeder. Ich habe auch im Parlament für das Artikel-7-Verfahren gestimmt. Aber gerade die Entscheidung für den Rechtsstaatsmechanismus ergibt einen neuen Testfall. Wenn Orban sich konstruktiv verhält, wenn er den Weg mitgeht und kein Veto einlegt, dann ist das ein positives Signal. Es gibt immer eine Möglichkeit zu zeigen, dass man die Prinzipien der EVP ernst nimmt, Viktor Orban hat jetzt eine weitere Gelegenheit dazu.

Aber was Covid-Impfstoffe betrifft, hat Ungarn als einziges EU-Land die Fühler nach Moskau ausgestreckt wegen eines Impfstoffs. Sind solche Dinge nicht ein Affront gegenüber Brüssel? Oder nur Theaterdonner?
Für diese Woche ist es ganz zentral, dass die EU-Kommission die Verträge mit Biontech und Pfizer unterschrieben hat und wir damit eine Liefersicherheit für die Europäer haben. Es gibt eine opt-out-Möglichkeit, in den nächsten Tagen kann sich jedes Mitgliedsland entscheiden, ob es dabei bleibt oder nicht. Bisher gibt es dafür keine Anzeichen. Alle wollen dieses europäische Produkt. Aktuell zeigt das, wir sind als Europäer stärker, wenn wir gemeinsam auftreten. Wir konnten letzten Endes auch bei den Preisen noch was erreichen, und dass sich der Konzern voll dem europäischen Haftungsrecht unterwirft. Da ist Europa als gemeinsamer Einkäufer deutlich stärker als jedes einzelne Land.

Manfred Weber und Sebastian Kurz bei der EVP-Präsidiumstagung im Februar in Salzburg
Manfred Weber und Sebastian Kurz bei der EVP-Präsidiumstagung im Februar in Salzburg © APA/BARBARA GINDL

Wir sind jetzt mitten in der zweiten Corona-Welle, insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich Europas Umgang mit der Pandemie stabilisiert hat, aber es gibt dennoch viele Dinge, die verwundern. Die EU-weite Coronaampel hat gleich einmal alles auf Rot gestellt, es gibt ungleiche Quarantänezeiten, Reisebeschränkungen, die nicht nachvollziehbar sind – da ist noch Luft nach oben.
Da ist sicher Luft nach oben, aber die Verantwortlichen managen den Herbst bisher besser als das Frühjahr. Es kam nicht zu Grenzschließungen, der Binnenmarkt ist stabilisiert. Es wurde ein gemeinsames Risikoverständnis geschaffen. Ja, es ist alles auf Rot, aber es kommen auch fast überall die Krankenhäuser an ihre Grenzen. Was wir noch stärker in Angriff nehmen sollten, ist mehr Koordination. In einem Land soll man im Geschäft einen Meter Abstand halten, im anderen eineinhalb oder zwei. In Bayern haben wir 14 Tage Quarantäne, in Belgien zehn Tage. Das verwirrt die Menschen und beschädigt das Vertrauen. Wir bräuchten ein koordinierendes europäisches Wissenschaftsinstitut, das einen allgemein verbindlichen Rahmen setzt, so wie das Robert-Koch-Institut.

Das ECDC?
Das ist genau der Punkt.

Die letzte Frage gilt einem ganz anderen Thema: es ist denkbar, dass Sie Ende nächsten Jahres neuer EU-Parlamentspräsident sind. Haben Sie dafür schon eine innere Weichenstellung?
Die Vereinbarung ist, dass die EVP das Vorschlagsrecht für die zweite Periode hat. Die Entscheidung darüber werden wir erst im nächsten Herbst treffen.