Für Saudi-Arabiens Kronprinzen Mohammed bin Salman addieren sich in diesen Wochen die Turbulenzen. Zum einen legt die Corona-Seuche derzeit die gesamte Nation lahm und treibt den Staatshaushalt in Rekorddefizite. Gleichzeitig plagt das Königreich eine selbstgemachte Multikrise - Ölpreis-Poker und Streit mit Donald Trump, Jemenkrieg und Dauerkonflikt mit Iran, politische Hyperrepression im Inneren sowie ein beispielloser Machtkampf in der Herrscherfamilie.

Diese Überlast türmt sich mittlerweile so gewaltig, dass sie am Ende auch die „Vision 2030“ des Thronfolgers ins Wanken bringen könnte. Mit diesem ehrgeizigen Reformprogramm will MbS, wie ihn das Volk nennt, seine Heimat in die Moderne führen, deren Abhängigkeit vom Öl beenden und deren Wirtschaft auf neue Fundamente stellen. Dazu erlaubte der 34-Jährige saudischen Frauen das Autofahren, öffnete den Arbeitsmarkt für die weibliche Bevölkerung und lockerte die strikten Regeln für den Umgang von Frauen und Männern in der Öffentlichkeit. Den Unternehmen verordnete er strikte Einstellungsquoten für saudische Landsleute. Zwei der zwölf Millionen Migrantenarbeiter verloren seit 2017 bereits ihren Job und mussten die Heimreise antreten. Erstmals seit Jahrzehnten gehören wieder Kinos und Rock-Konzerte zum Freizeitangebot, ja sogar Ringerturniere und Monster Truck Rallys finden statt, während der einst allmächtigen Religionspolizei nahezu alle Befugnisse entzogen wurden.

Der Kronprinz ist bei den Jungen populär

Diese Entkrampfung des Alltags und die neuen Freizeitvergnügungen machen den Kronprinzen besonders bei jungen Saudis beliebt. Umso unerbittlicher dagegen reagiert der starke Mann Saudi-Arabiens auf Forderungen nach politischen Lockerungen, mehr Bürgerrechten, Versammlungsfreiheit, echter Kontrolle von Polizei und Justiz sowie Beschneidung der Allmacht des Königshauses. Wer dazu auch nur einige Zeilen in sozialen Medien postet oder gar öffentlich den Mund aufmacht, riskiert systematische Schikanen gegen sich und seine Angehörigen, eine Anklage als angeblicher Terrorist sowie lange Haftstrafen, wie es bereits abertausende friedliche Aktivisten erfahren mussten.

Bei der Corona-Pandemie wiederum grassiert das Virus besonders unter den Millionen Migrantenarbeitern aus Asien, Afrika und anderen arabischen Nationen, die oft dicht gedrängt in Mehrbettzimmern hausen und praktisch keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung haben. Nach der Türkei und Iran ist Saudi-Arabien im Nahen Osten die Nation mit den meisten Infizierten. Das milliardenschwere Pilgergeschäft liegt am Boden, zum ersten Mal in der modernen Geschichte der Wüstenmonarchie könnte der Hadsch ausfallen. Aber auch über 150 Prinzen sollen sich angesteckt haben, die Hälfte von ihnen liegt im Krankenhaus. König Salman begab sich nahe der Hafenstadt Jeddah in Palast-Quarantäne auf eine Insel. Mohammed bin Salman zog sich nach Informationen der „New York Times“ mit einigen Getreuen und Ministern an einen abgelegenen Küstenteil des Roten Meeres an der Grenze zu Jordanien zurück, wo die futuristische Stadt Neom entstehen soll und wo letztes Jahr bereits erste Paläste errichtet wurden.

Sind die fetten Jahre vorüber?

Gleichzeitig droht das Ölgeschäft in geradezu systemkritischer Weise einzubrechen. Die Nachfrage sinkt derzeit ins Bodenlose. Und angesichts des globalen Klimawandels dürfte sich der Umstieg der Weltwirtschaft auf erneuerbare Energien deutlich beschleunigen. Ging die „Internationale Energiebehörde“ (IEA) bisher davon aus, dass Rohöl als Energiequelle erstmals 2040 von Wind, Sonne und Wasser überflügelt werden könnte, dürfte sich dieser Prozess durch die weltweiten Post-Corona-Konjunkturprogramme spürbar beschleunigen. Petroleum in bisherigen Mengen würde nicht mehr gebraucht, der Profit der Ölstaaten auf Dauer einbrechen.

Die Zeiten des munter aus dem Wüstenboden sprudelnden Wohlstands wären vorbei, ohne dass Saudi-Arabien bisher darauf wirklich vorbereitet ist. Einen Vorgeschmack auf die neuen Verwerfungen lieferte in den letzten Wochen bereits der von Mohammed bin Salman provozierte Ölpreis-Poker. Im Streit um künftige Fördermengen überwarf sich der stürmische Kronprinz nicht nur mit Russlands Präsident Wladimir Putin, sondern auch mit seinem amerikanischen Gönner Donald Trump. Wutentbrannt musste Trump mitansehen, wie der Preiskrieg des mächtigen Ölprinzen die amerikanische Fracking-Industrie in Richtung Konkurs treibt, weil sie mit Riyadhs Dumpingpreisen nicht mithalten kann. Mit Putin lieferte sich Mohammed bin Salman Anfang März ein wütendes Schreiduell über Telefon, was der machtbewusste Kremlchef so schnell nicht ad acta legen wird.

Ähnlich vertrackt ist auch die Lage im Jemenkrieg, den der Kronprinz im März 2015 vom Zaun brach und bei dem ihm nun ein schmählicher Rückzug ins Haus steht. Der fünfjährige Feldzug gegen die vom Iran unterstützten Houthis ist gescheitert, verschlang Unsummen und richtete nach dem Urteil der Vereinten Nationen das „größte humanitäre Desaster der Gegenwart“ an. Mehr als 100.000 Menschen verloren ihr Leben, über 3000 Schulen wurden zerstört, das Gesundheitssystem liegt am Boden. Die Hälfte der Bevölkerung ist unterernährt oder hungert. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) als wichtigster Verbündeter Riyadhs machten sich Mitte 2019 aus dem Staub, weil in ihren Augen der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist.

Die Saudis scheitern im Jemen

Anfang April bot Mohammed bin Salman den Houthis nun eine 14-tägige Corona-Feuerpause an, die er kürzlich bis zum Ende des Ramadans verlängerte. Trotzdem gehen die Kämpfe unvermindert weiter, alle Gesprächskontakte der Saudis mit den Houthis verliefen bisher im Sande. Im Norden in der Provinz Marib, wo ein Großteil der Ölvorkommen liegt, rollt die Offensive der Rebellen gegen die letzte Hochburg der Regierungstruppen. In der Hafenstadt Aden, in der am Mittwoch die ersten Corona-Fälle auftraten, rief die Unabhängigkeitsbewegung des „Südlichen Übergangsrates“ (STC) einen eigenen Staat Südjemen aus und spaltete damit endgültig die saudische Anti-Houthi-Koalition.

Kritik aus dem Königshaus an dem Jemen-Drama drang in den letzten Jahren lediglich  einmal nach draußen, als Ahmad bin Abdulaziz, der einzige noch lebende Bruder von König Salman, in London gegenüber Demonstranten erklärte, für diesen Krieg sein nicht die gesamte Al-Saud Familie verantwortlich, sondern nur „bestimmte Personen und niemand sonst“. Später ruderte der 78-Jährige zurück und bezeichnete alles als Missverständnis, doch das Zerwürfnis ließ sich nicht mehr übertünchen. Inzwischen sitzt der betagte Königsbruder selbst hinter Gitter, zusammen mit dem ehemaligen Kronprinzen und Innenminister Mohamed bin Nayef sowie 300 Getreuen. Beide werden von Mohammed bin Salman beschuldigt, einen Putsch gegen ihn geplant zu haben.

Tod eines mutigen Regimekritikers

Dass der Thronfolger auch jeden anderen, der seine Allmacht kritisiert, erbarmungslos verfolgt, weiß seit dem Istanbuler Staatsmord an dem Journalisten Jamal Khashoggi die gesamte Welt. Kürzlich lenkte der Hafttod von Abdullah al-Hamid, dem Pionier der saudischen Menschenrechtsbewegung und wichtigsten Reformdenker des Königreiches, erneut die internationale Aufmerksamkeit auf die miserable saudische Menschenrechtslage - die systematische Folter in Gefängnissen, die Willkür der Scharia-Gerichte, die Rekordziffern bei Hinrichtungen und die flächendeckende Repression gegen Bürgerrechtler.Al-Hamids „ungesetzliche Inhaftierung und unmenschliche Behandlung“ hätten zu seinem Schlaganfalltod geführt, erklärte Amnesty International. Seit Monaten hatte der 69-Jährige über Herzbeschwerden geklagt, im Januar erlitt er einen Herzinfarkt. Eine dringend notwendige Operation wurde ihm verweigert, was seinen Tod besiegelte.

Und so suchten die PR-Strategen des Kronprinzen am vergangenen Wochenende ein möglichst medienwirksames Gegenmittel, um das unangenehme Thema aus der Welt zu schaffen und Menschenrechtlern rund um den Globus den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eilends zauberten sie zwei Reformen aus dem Hut, den Stopp von Hinrichtungen Minderjähriger sowie die Abschaffung der archaischen Scharia-Prügelstrafe, zumal viele Aktivisten das Video von der öffentlichen Auspeitschung des Bloggers Raif Badawi 2015 vor Jeddahs Hauptmoschee noch vor Augen haben.

An den kardinalen Missständen im Königreich jedoch ändern die beiden neuen Justizdekrete nichts. Mit der saudischen Rechtspraxis vertraute Menschenrechtler bewerten sie lediglich als „irreführende“ Symbolgesten. So können Minderjährige, die von Anti-Terror-Gerichten verurteilt wurden, nach wie vor hingerichtet werden, also auch die drei Schiiten, die 2011 und 2012 als Jugendliche an Demonstrationen teilnahmen und dafür zum Tode verurteilt wurden, unter ihnen Ali al-Nimr, der Neffe des 2016 exekutierten populären Klerikers Nimr al-Nimr. Auch bei schweren Verbrechen, wie Mord, Totschlag, bewaffneter Raub oder Gotteslästerung gelten weiterhin weder Prügelverbot noch Hinrichtungsstopp, kritisierte die Initiative „European Saudi Organisation for Human Rights“ (ESOHR). „Niemand von den derzeit 13 Personen, die für Taten als Minderjährige verurteilt wurden, ist von dem neuen Dekret betroffen.“