Den starken Fokus der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft auf Migration sieht Politikwissenschaftlerin Sieglinde Rosenberger kritisch. Die EU stehe vor einigen anderen Herausforderungen, die während des halbjährigen Vorsitzes "kaum tangiert" würden, wie Rosenberger im APA-Gespräch erklärte. Zudem berge der "sehr einseitig negative" Diskurs über Migration negative Folgen für die Bevölkerung.

Was die aktuellen Herausforderungen der EU betrifft, ortet Rosenberger vier große Themenbereiche: Zum einen sei die Union noch mit den Nachwirkungen der Finanzkrise von 2008 beschäftigt, weshalb hier "jedenfalls Handlungsbedarf gegeben" sei. Auch der Brexit sei eine "brennende Herausforderung", ebenso wie die transatlantische Beziehungen. Bei diesen drei Aspekten gibt es nach Ansicht der Expertin jedoch "relativ wenige Aktivitäten" des österreichischen Ratsvorsitzes. Viertes großes Thema sei Migrationspolitik, bei der die EU aufgrund einer "gewissen Blockade, ein Stück weit sogar einer Lähmung, keine Aktivitäten wahrnehmen kann."

Euroskepsis als Triebfeder

Die Blockade in der EU-Migrationspolitik führt Rosenberger, die eine Professur am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Wien innehat, auf das Erstarken von Parteien mit europaskeptischer bzw. -ablehnender Haltung zurück. "Die österreichische Ratspräsidentschaft scheint zu einer Entspannung der Blockade aber nichts beizutragen, sondern setzt die nationale Agenda auf der EU-Ebene einfach fort." Und auch hier gebe es wenig konkrete Entscheidungen, beobachtet sie.

Vor allem, wenn es um die Bekämpfung von Fluchtursachen geht, wo sich die Mitgliedsstaaten nicht nur auf europäischer Ebene sondern auch national einbringen könnten, vermisst Rosenberger österreichisches Engagement. "Da gibt es viel rhetorisches Engagement ohne deutliche konkrete Aktivitäten." Vor allem Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat sich nach der "Flüchtlingskrise" immer wieder für mehr "Hilfe vor Ort" ausgesprochen, bisher gibt es aber noch keine entsprechenden Ankündigungen, etwa zur Aufstockung der Entwicklungshilfegelder oder bilateraler Unterstützungsabkommen.

"Substanzielle Politik" fehlt trotz Omnipräsenz

Dass Asyl als Migrationsthematik trotz fehlender "substanzieller Politik" weiterhin omnipräsent ist, sieht Rosenberger kritisch - vor allem deshalb, weil über Asyl und Migration fast immer in einem negativen Zusammenhang gesprochen wird, mit angedeuteten "negativen Folgen für die Handlungsfähigkeit des Staates, für die öffentliche Ordnung, für das imaginierte nationale Wir, und insgesamt für die soziale Situation der Bevölkerung." Demgegenüber gebe es kaum Diskussionen über die "Notwendigkeit von qualifizierter Zuwanderung" oder über Menschlichkeit und Solidarität. In einigen Fällen werde das Thema Migration zudem instrumentalisiert, beispielsweise um sozialpolitische Einschnitte zu rechtfertigen, so die Wissenschafterin unter Verweis auf die Kürzung der Mindestsicherung.

Die gegenwärtige Verschärfung in der Asylpolitik ist für die Politologin hingegen wenig überraschend, erklärt sie mit Blick auf die Geschichte der österreichischen Asylgesetzgebung. "Was hingegen neu ist, ist erstens, dass die Regierung nun die Zuwanderung auf der Grundlage internationaler Schutzgewährung (Asyl, Anm.) gegen Null bringen will", betont Rosenberger. "Zweitens, dass mit Verweis auf irreguläre Migration die Grenzen innerhalb der EU für alle EU-Bürger wieder aufgezogen werden, also eine wichtige Errungenschaft der europäischen Integration nachhaltig und leichtfertig zugleich geopfert wird."

Mehr verteilungs- und sozialpolitische Antworten nötig

Um der Bevölkerung die Angst und Sorge vor Zuwanderung zu nehmen, brauche es "gute verteilungs- und sozialpolitische Antworten, insbesondere für diejenigen, die im Zuge der Globalisierung an Status und Ressourcen verloren haben sich benachteiligt fühlen und nun befürchten, durch Migranten noch weiter zu verlieren. Genau diesen Politikansatz sehe ich aber nicht", so Rosenberger. In vielen Ländern, so auch in Österreich, gebe es vielmehr immer mehr Parteien, die "Aufmerksamkeit und Stimmen erhalten, indem sie ständig über Bedrohung und Unsicherheit sprechen und dadurch nur weiter Angst erzeugen anstatt mit lösungsorientierten Maßnahmen diese zu reduzieren."