Reden kann er immer noch. Barack Obama hat sich heute Nacht bei seiner „Rede zur Lage der Nation“ kämpferisch und selbstbewusst gezeigt – und auch in seiner sechsten Ansprache dieser Art hat er wieder einen „Neuanfang Amerikas“ verkündet. „Der Schatten der Krise liegt hinter uns“, sagte Obama. „Heute Nacht schlagen wir ein neues Kapitel auf“. Er verwies auf die sinkende Arbeitslosigkeit und soziale Verbesserungen wie die Gesundheitsreform. Den Republikanern warf er mit seinen Plänen, für Reiche die Steuern zu erhöhen, den Fehdehandschuh hin; und er stellte kamerawirksam seinen Stolz zur Schau, die historische Annäherung an Kuba eingeleitet zu haben, wo heute die ersten offiziellen Gespräche beginnen. Viele Konservative empfinden diesen Schwenk als pure Provokation. Doch das Volk hinter den Fernsehschirmen applaudiert.

Man könnte meinen, Obama stünde in Kürze das Rennen um seine Wiederkandidatur bevor. Tut es aber nicht. Antreten darf er 2016 nicht mehr – Obama hat nach zwei Amtszeiten als US-Präsident das Stadium der „lame duck“, der „lahmen Ente“ erreicht. Beflügelt von guten Wirtschaftsdaten verbreitet er wieder Aufbruchsstimmung, doch dass sich seine Steuerpläne umsetzen lassen, ist unwahrscheinlich - seit den letzten Zwischenwahlen sind beide Häuser des US-Kongresses in der Hand der Republikaner. Obama inszeniert sich seine letzte Flug-Show: Offensichtlich will er die derzeit für ihn günstige Thermik der Umfragen nutzen, in denen seine Popularitätswerte nach den Tiefs der Krisenjahre allmählich wieder ansteigen. Er bastelt an seinem innenpolitischen Erbe, um in zwei Jahren aus solider Position sein Amt abzugeben.

Tatsächlich hat er wirtschaftspolitisch nach der Finanzkrise weit mehr erreicht als die Europäer, und allmählich kommen diese Erfolge auch bei der Bevölkerung an. In der Außenpolitik, der sich scheidende US-Präsidenten üblicherweise gerne widmen, um mit spektakulären Friedensinitiativen ihre Strahlkraft im Buch der Geschichte aufzupolieren, würde ein starkes, konstruktives Amerika zwar dringend gebraucht. Der Terror der Islamisten, Klimawandel, Nahost-Konflikt oder Ukraine-Krise haben Größenordnungen erreicht, die weltweit für tiefste Verunsicherung sorgen und sich nur noch durch konsequente internationale Kooperation lösen lassen. Da waren heute Nacht von Obama keine neuen Ideen zu vernehmen. Den Glauben, dass er hier noch etwas erreichen kann, hat der einst visionäre Obama offenbar verloren. Jetzt kämpft er darum, zumindest zu Hause mit versuchter Umverteilung zu jenen, für die der amerikanische Traum nie wahr wurde, Terrain gut zu machen. Ein moderater Höhenflug könnte sich vielleicht noch ausgehen. Ein echter Phönix wird aus der „lahmen Ente“ aber wohl keiner mehr.