Es war eine Nacht, die die Menschen in Israel wohl nie vergessen werden. In das Wochenende waren die Israelis noch relativ entspannt gegangen. Ja, seit fast zwei Wochen spekulierte man über einen angekündigten iranischen Angriff. Aber man wusste nicht, wann er kommen würde, vielleicht am Ende gar nicht. Und vielleicht würde er sich gar nicht gegen ein Ziel in Israel selbst richten, sondern gegen eine israelische Vertretung irgendwo in der Ferne. Die Fachleute hatten beruhigt: Israel habe die beste Luftabwehr der Welt, und der Iran würde, wenn überhaupt, nur militärische Einrichtungen und nicht die Zivilbevölkerung anvisieren.

„Minimaler Schaden“

Aber Samstag gegen 20 Uhr kamen dann plötzlich beunruhigende neue Anweisungen: Für die nächsten zwei Tage seien alle schulischen Aktivitäten abgesagt und Ansammlungen von mehr als tausend Menschen verboten. War das noch ein bisschen rätselhaft, so hatten die hastig angeworfenen Live-Sondersendungen der Radio- und Fernsehstationen wenig später die Erklärung. Vom Iran waren Dutzende Drohnen in Richtung Israel losgeschickt worden – Flugzeit rund acht Stunden. Die Israelis haben mit Alarmsituationen ja Erfahrung, aber das war neu. Wie verhält man sich da? Jetzt einmal schlafen gehen und in acht Stunden in den Bunker? Dann erfuhr man, dass auch Marschflugkörper (Flugzeit zwei Stunden) unterwegs waren, und dann hörte man sogar, dass Teheran etwas von „ballistischen Raketen“ (Flugzeit zwölf Minuten) gesagt hatte – ganze Schwärme, irgendwie so synchronisiert, dass sie gleichzeitig in Israel aufschlagen sollten. Da konnte man schon nervös werden.

Ein Raketenteil verletzte ein beduinisches Mädchen schwer
Ein Raketenteil verletzte ein beduinisches Mädchen schwer © V. der Perre

Doch schon früh am Sonntag war klar, dass der spektakuläre Angriff auch spektakulär gescheitert war. Die vielen Schichten des israelischen Abwehrsystems – „Pfeil 2“ und „Pfeil 3“ gegen Langstreckenraketen, „Davids Schleuder“ gegen Marschflugkörper und Drohnen, „Eiserne Kuppel“ gegen Kurzstreckenraketen, ergänzt durch Kampfjets – haben sich fast perfekt bewährt. Die Iraner hatten nach israelischen Angaben 130 Drohnen, 30 Marschflugkörper und 120 Raketen auf Israel abgefeuert. Davon seien „99 Prozent“ abgefangen worden, so Armee-Sprecher Daniel Hagari. „Minimalen Schaden“ hätten iranische Raketen dem Luftwaffenstützpunkt Nevatim zugefügt. Allerdings ist durch Raketentrümmer ein siebenjähriges beduinisches Mädchen in Südisrael schwer verletzt worden.

Großen Anteil an dem für Israel vergleichsweise glimpflichen Ausgang hatte eine internationale Koalition unter der Führung der USA. Amerikanische, britische, jordanische Flugzeuge und Raketen fingen noch über dem Irak, Syrien und Jordanien viele der angreifenden Flugkörper ab, und Saudi-Arabien dürfte die Nutzung von US-Militärbasen auf seinem Boden geduldet haben. Die Zerwürfnisse mit Joe Biden wegen der Entwicklungen im Gazastreifen waren schlagartig vergessen – nun demonstrierte der US-Präsident, dass er sein Wort hält und Israel auch mit Taten beisteht, wenn es wirklich ernst wird. Die Israelis sind beeindruckt.

Der Iran hat neue Spielregeln aufgestellt

Aber wie wird die israelische Führung nun reagieren? Es kommt darauf an, ob man den iranischen Angriff taktisch misst, also am Ergebnis, oder strategisch, also an der Absicht und dem Zukunftspotenzial. Die „Verluste“ dieses außergewöhnlichen Wochenendes sind (abgesehen von den astronomischen finanziellen Kosten für die verfeuerten Abwehrraketen) vernachlässigbar, man könnte zur Tagesordnung übergehen. Aber die iranischen Geschoße hätten, wären sie ans Ziel gekommen, viele Tausende Menschen töten können. Der Iran hat neue Spielregeln aufgestellt: Erstmals hat er Israel nicht im Schatten seiner Stellvertreter (Hamas, Hisbollah, Huthis) attackiert, sondern offen, Land gegen Land – de facto eine Kriegserklärung. Wenn man das einfach so stehen lässt, meinen manche in Israel, signalisiert man Schwäche und lädt das Mullah-Regime dazu ein, es noch einmal mit noch mehr Raketen zu versuchen.

Vorläufig scheint sich die Auffassung durchzusetzen, dass Israel, das mitten in einem Krieg gegen die Hamas und einem Kleinkrieg gegen die Hisbollah steht, keine zusätzliche Front eröffnen sollte. Außerdem wird man wohl die eben erst wieder hergestellte Harmonie mit den USA nicht gleich wieder verderben wollen – Biden hilft Israel in der Defensive, aber bei einer Offensive würde er nur zusehen.