Zwei Jahre dauert nun bereit der große, von Russland am 24. Februar 2022 begonnene Krieg. Geprägt war er von mehreren Phasen. Phase eins bildete die Überschätzung der russischen Streitkräfte und die Unterschätzung des ukrainischen Kampfeswillen. Auf das Scheitern des Moskauer „Blitzkriegs“ folgte Phase zwei, die völlige (mediale) Unterschätzung der Russen. Nach ihrem Rückzug von Kiew und Problemen bei der ersten Welle der Mobilisierung ergoss sich viel Spott über diese Streitkräfte, und in der Propagandaschlacht sollen westliche Geheimdienste sogar prophezeit haben, dass den Russen demnächst die Artilleriemunition und die Luftwaffe ausgehen werden. Zwar erzielte der Angreifer im Süden und Osten Geländegewinne, doch die ukrainische Herbstoffensive an der Ostfront traf auf ausgedünnte, mangelhaft ausgebildete Truppen mit geringer Einsatzbereitschaft.

Der Fall von Avdiivka

Diese ukrainischen Erfolge ließen zu Jahreswechsel die Siegeszuversicht massiv wachsen – doch die Sommeroffensive im Süden scheiterte, und der Durchbruch bis zur Halbinsel Krim gelang nicht. Nun liegt die Initiative wieder bei den Russen. Sie haben unter massiven Verlusten die Stadt Avdiivka erobert; sie ist de facto ein Vorort der Industriestadt Donezk, einem der Zentren prorussischer Separatisten des Jahres 2014. Der Fall von Avdiivka ist schmerzlicher als die Niederlage bei Bachmut im Vorjahr. Denn Avdiivka mit seiner einst dominanten Kokerei hatten die Ukraine zu Festung ausgebaut. Wie massiv die westlich davon liegende zweite Linie der ukrainischen Verteidigung ist, werden die kommenden Wochen zeigen.

Der Krieg und der Schmerz: Er bleibt, 
vorerst
Der Krieg und der Schmerz: Er bleibt, vorerst © AFP

Trotzdem lassen sich aus dieser Schlacht wichtige Lehren ziehen. Dazu zählt die massive Überlegenheit der russischen Angreifer in der Luft, inklusive Artillerie und vor allem bei sogenannten Gleitbomben. Durch den Einsatz dieser Waffen wurden ukrainische Stellungen regelrecht ausradiert.

Zweitens haben die Russen im Drohnenkrieg die zu Beginn bestehenden Vorteile der Ukraine jedenfalls im Landkrieg wettgemacht. Der Wettlauf bei der Entwicklung neuer Technologien und die Frage, wie rasch neue Waffensysteme an der Front serienmäßig verfügbar sein können, werden eine wichtige Rolle im weiteren Kriegsverlauf spielen. Die Ukraine dürfte auch mittelfristig nicht in der Lage sein, die Vorteile des russisch-militärisch-industriellen Komplexes zu kompensieren; aufwiegen kann sie diesen Komplex, wenn überhaupt, durch die bessere Technologie.

Fronturlaube und Rotation gibt es nicht

Drittens besteht ein klarer Nachteil der Ukraine bei der Verfügbarkeit von Rekruten. Erstens ist die Bevölkerungszahl deutlich geringer, zweitens sind viele Männer im wehrfähigen Alter geflohen, drittens schränkt der bereits bestehende Mangel an Arbeitskräften das Potenzial an Rekruten weiter ein, und viertens zeigen Umfragen, dass eine Zwangsmobilisierung in der Bevölkerung äußerst unpopulär wäre. Es ist eben ein Unterschied, den russischen Aggressor massiv abzulehnen, was weiter der Fall ist, oder auch selbst in den Krieg zu ziehen. Ein neues Gesetz zur Mobilisierung soll bis März in Kraft treten.  

Viertens zeigt auch Avdiivka, wie dringend nach zwei Jahren Krieg Rotationen und Fronturlaube sind. So schrieb ein dort dienender Soldat auf einem Telegram-Kanal: „22 Monate an der Frontlinie. Rotation? Haben wir nichts von gehört. Es gibt eine Grenze für alles.“

Fünftens hat der Mangel an westlichem Nachschub spürbare Folgen für die Kampfkraft der Ukraine. Doch berechenbarer Nachschub ist gerade auch für die weitere Planbarkeit des Krieges für Kiew von zentraler Bedeutung. Wie rasch und ob dieser „westliche Pferdefuß“ beseitigt werden kann, hängt vor allem von der Entwicklung in den USA ab. Europa wird den Rückgang amerikanischer Waffen derzeit nicht kompensieren können, muss sich aber darauf einstellen, weit mehr Waffen liefern zu müssen als bisher. Außerdem wird sich Europa – unabhängig von Trump oder Biden – darauf einstellen müssen, mehr für seine Verteidigung auszugeben.

© AFP / Sergei Supinsky

Die Illusion einer vollständigen Rückeroberung

Andererseits zeigen zwei Jahre Krieg, dass westliche Sanktionen Russland nicht an der Kriegsführung hindern – denn der „globale Süden“ teilt nicht die Einschätzung des „Nordens“, von einer umfassenden internationalen Isolation Russlands kann nicht die Rede sein. 

Die Ukraine ist derzeit in der Defensive, nicht aber auf der sicheren Verliererstraße. Außerdem hat die Ukraine gerade im Seekrieg gegen die russische Schwarzmeerflotte durch den Einsatz von Seedrohnen und dank westlicher Aufklärung beachtliche Erfolge erzielt. Der Krieg in der Ukraine ist ein Abnützungskrieg; unterstützt der Westen weiter, wird Kiew standhalten können, doch das verkündete Ziel einer Rückeroberung des gesamten russisch besetzten Territoriums halten Militärexperten für eine Illusion. Leider ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass in einem Jahr eine neue Bilanz zu drei Jahren Krieg geschrieben werden muss.