Am Sonntag wurde eine 29-Jährige mit ihrer vierjährigen Tochter tot in einem Auto in Niederösterreich aufgefunden. An der Hand der Frau sind Schmauchspuren festgestellt worden - die Anzeichen deuten zunehmend auf eine Verzweiflungstat hin. In Ried stand am Dienstag ein 22-Jähriger vor Gericht, der im Vorjahr versucht haben soll, seine Ex-Partnerin, ein gemeinsames Kind (10 Monate) und Stiefkind (5 Jahre) umzubringen

Was treibt Menschen dazu an, ihre eigenen Kinder in den Tod zu reißen?
LUISE HOLLERER: Bei Personen, die so verzweifelt sind, dass sie sich selbst und das Kind umbringen, ist oft der Gedanke: "Mein Kind kann ohne mich nicht überleben, daher nehme ich es mit in den Tod". Das passiert dann in einer sehr dunklen, depressiven Phase und ist eine Verzweiflungstat. Man hat keine gesicherten, sozialen Verbindungen und sieht keine Vertrauensperson, die sich um das Kind kümmern könnte. Die Einsamkeit ist da schon sehr groß. In Zeiten wie jetzt, wo Menschen alleine sind, vielleicht arbeitslos und finanzielle Nöte haben, können sich solche Verzweiflungstaten häufen. Im anderen Fall geht es um Eifersucht. In hochkritischen Scheidungs- oder Trennungsfällen fehlt die Reflexivität. Die Rachegelüste sind dann die höchste Art der Eskalation. Der Gedanke dahinter: "Wir gehen gemeinsam in den Abgrund." Vielleicht wird auch zuerst den Kindern etwas angetan, um den Expartner emotional zu schädigen.

Thema Einsamkeit: Corona verschärft diese Situation. Wie erkennt man, dass Leute wirklich verzweifelt sind?
HOLLERER: Durch den sozialen Rückzug fällt das Netzwerk weg. Suizidal gefährdete Personen sehen wenig Unterstützung. Wenn Betroffene kaum mehr aus dem Haus kommen oder das Kind vernachlässigen - es zum Beispiel nicht mehr in den Kindergarten bringen - sind das ernste Signale. Durch die Ausgangsbeschränkungen erkennt man das derzeit leider weniger. Bei Ankündigungen wie „Ich mag nicht mehr, ich sehe kein Licht“ sollte man hellhörig werden und auf Angebote hinweisen.

Welche Unterstützungen gibt es hier?
HOLLERER: Personen, die sich überfordert fühlen, können sich immer an Sozialhilfestellen oder psychosoziale Vereine wenden. Außerdem gibt es Suizidpräventionsstellen oder zur Not psychiatrische Ambulanzen in Krankenhäusern. Wenn ich mich belastet fühle, bin ich auch bei den Familienberatungsstellen gut aufgehoben. Vielleicht braucht es auch eine professionelle Behandlung.

Zurück zum Racheakt. Wenn ich aus Eifersucht töte - mich selbst oder Angehörige - wie kann es so weit kommen?
HOLLERER: Diesen Menschen fehlt eine menschenfreundliche ethische Grundhaltung. Vielleicht haben sie nie gelernt, ihre Emotionen nach sozial angemessenen Richtlinien zu steuern. Dann steht der pure Racheakt im Vordergrund. Man ist triebgesteuert und es kann zu solchen Extremhandlungen kommen. Es gibt - unabhängig von ethischen oder religiösen Extrempositionen - aber schon Grundanlagen bei kleinen Kindern, die Lust haben am Quälen oder an Rache. Da braucht es viel pädagogische und therapeutische Arbeit.

Kann man solche Taten vorhersehen?
HOLLERER: Suizid ist immer eine Kurzschlussreaktion, weil die Mittel das Leben zu bewältigen in dem Moment nicht zugänglich erscheinen. Jemand anderen aus Rache umzubringen, ist auch oft eine Affekthandlung, getriggert etwa durch Eifersucht.

Gibt es einen Unterschied, wie Männer und Frauen in diesen Extremsituationen handeln?
HOLLERER: Wie gehandelt wird, hängt vielmehr vom individuellen Motiv ab.

Welchen Rat würden Sie jemandem geben, dem alles aussichtslos erscheint?
HOLLERER: Dass Netzwerke, die es schon gibt, bewusst wieder aufgegriffen werden. Grundsätzlich stabilisieren Rituale. Wenn ich etwa vor Corona, Mannschaftssportarten betrieben habe, dann kann ich mich mit den Personen jetzt zum Spazierengehen treffen. Wenn ich vorher im Büro war, dann kann ich versuchen, mich jetzt über Skype mit Kollegen auszutauschen. Früher ist man gemeinsam in die Kirche gegangen am Sonntag und so regelmäßig soziale Kontakte gepflegt. Heutzutage fehlen diese ritualisierten Begegnungsmöglichkeiten. Man kann versuchen, sich diese dennoch irgendwie zu schaffen und den Tagesablauf so gut es geht strukturieren. Am Abend kann man reflektieren, was heute der Sonnenmoment war.