Leserbrief zu Leitartikel: „Arbeit ist das Gute im Leben“ und Außensicht: „Der missverstandene Feiertag“, 1. 5.

Ernst Sittinger spricht in seinem Leitartikel der Arbeit das Wort und vergisst dabei, dass Menschen ohne Vollbeschäftigung in vielen Fällen unfreiwillig Teilzeit arbeiten müssen. Stichworte Kinderbetreuung und Pflege. Er vergisst auch, dass jahrelang hohe Arbeitsbelastung und Krankheit Gründe für Teilzeit, Auszeit oder Frühpension sind. Und er vergisst des Weiteren, dass mittels Teilzeitdienstverträgen mehr Dienstnehmer:innen die Vollzeitäquivalente ausfüllen, also beschäftigt werden können.

Die Feststellung, wonach das System nur funktioniere, wenn jeder (!) bereit sei, nach seinen Kräften Energie in selbiges zu stecken, also arbeitet, ist auch falsch. Sittinger übersieht, dass die Produktivität und ihre Steigerung in vielen Arbeitsprozessen schon lange nicht mehr nur von der menschlichen Arbeitskraft abhängen. Mit Maschinen, Robotern und zusehends mit KI wurden und werden Arbeitsprozesse beschleunigt, was die Produktivität der einzelnen Arbeitsbereiche stark erhöht hat und mittels KI noch weit höher treiben wird.

Das heißt, der Faktor Mensch spielt gegenüber dem Faktor Maschine eine immer geringer werdende Rolle in vielen Arbeitsprozessen. Zusatz: Der arbeitende Mensch unterliegt den Lohnnebenkosten, die Maschine nicht. Womit wir bei den Produktionsgewinnen wären, bei Steuergerechtigkeit (Maschinensteuer vs. Lohnnebenkostensenkung) und in weiterer Folge bei der Verteilung dieser Gewinne. Das sind die tatsächlich bedeutenden Themen in Sachen Systemfunktion. Wenn die von Mensch und Maschine erwirtschafteten Gewinne weiterhin im großen Stil unterbesteuert an die Wenigen fließen, um dann auf den unterbesteuerten, absurden Finanzmärkten noch weiter vermehrt zu werden, fährt dieses System tatsächlich gegen die Wand.

Zu glauben, dass ein Mehr an Arbeitszeit und 100 Prozent Vollbeschäftigung das System retten könnten, ist ein Irrglaube. Findet die Politik hierbei keine praktikable Lösung, werden wir tatsächlich ein Systemproblem haben, das mitnichten an Teilzeit, Auszeit oder Frühpension liegen wird. Mag. Harald Marth, St. Radegund

Weitere Leserbriefe zum Thema

Geben und Nehmen

In nahezu jeder Partnerschaft sollten sich Geben und Nehmen die Waage halten. Die von Ernst Sittinger thematisierte „Kluft zwischen Zahlern und Nehmern“ ist im Grunde nichts anderes. Beides ist zum Scheitern verurteilt, wenn der Zeiger der Waage ausschlägt. Die Sozialpartnerschaften wurden nach dem Zweiten Weltkrieg darauf begründet, dass grundsätzlich alle im arbeitsfähigen Alter zum gemeinsamen Wohl beitragen. Work-Life-Balance, Auszeit, Frühpension und schon gar nicht die Beantwortung vieler Schulabgänger mit „AMS“ als Antwort auf die Frage nach deren Berufswunsch kann das Sozialsystem tragen.

Wer soll das alles bezahlen? Unser Staat ist schon jetzt so hoch verschuldet wie nie zuvor. Wo sind die Politiker, die sich getrauen, endlich unpopuläre Entscheidungen zu treffen? Ich kann mir vorstellen, dass es für SPÖ und KPÖ (die ehemaligen Arbeiter-Parteien) ein lohnendes Wahlthema wäre, hier ein Gleichgewicht herzustellen. Eine Honorierung seitens der Wählerinnen und Wähler wäre ihnen gewiss. Gerlinde Veronika Maurer, Graz

Vielarbeiter bestraft

Danke an Ernst Sittinger für seinen mahnenden Leitartikel. Die einseitig rufenden Marktschreier nach weniger Arbeit sollten die Sorge um die Solidarität in der Gesellschaft ernst nehmen. Pauschal „weniger“ arbeiten und zugleich das hohe Wohlstandsniveau und den Sozialstaat erhalten, wie soll das gehen? Die Vielarbeiter werden steuerlich bestraft und müssen sich mehr und mehr als die Dummen vorkommen. Vielleicht blickt man auch einmal über den Tellerrand auf Länder und Leute, wo das Mantra „weniger Arbeit“ überhaupt kein Thema ist, sondern wo vielmehr zu weiteren Anstrengungen zum Erhalt des hohen Wohlstandes ermutigt und aufgerufen wird. Karl Brunner, Klagenfurt