Wie gestaltet sich die Lage in Tirol aktuell?
DOROTHEE VON LAER: Die Zahlen sinken, die Impfungen spielen hier eine große Rolle. Vor allem im Bezirk sieht man den Effekt der Impfungen. Insgesamt ist aber auch ein jahreszeitlicher Effekt zu beobachten. Die Zahlen sind auf hohem Niveau stagniert, bevor der Lockdown im Osten kam. Ich hoffe, dass wir im Mai die saisonalen Effekte ganz deutlich sehen und im Sommer ein bisschen Luft bekommen werden.

In Vorarlberg steigen die Zahlen wieder stärker. Liegt es an der Gastro-Öffnung, oder daran, dass sich auch dort B.1.1.7 durchsetzt?
Das liegt sicherlich an beidem, zudem sind die saisonalen Effekte in Vorarlberg noch nicht so schlagend. Hinzu kommt, dass die britische Variante härtere Maßnahmen erfordert als der Wildtyp oder die Immune-Escape-Varianten, wie B.1.351 oder P1, um sie einzudämmen. Die britische lässt sich nicht so einfach in Schach halten. Das schlägt in Vorarlberg parallel mit den Öffnungen durch.

Braucht es Ihrer Meinung nach einen weiteren Lockdown?
In den Hochinzidenz-Gebieten im Osten sind die Lockdowns verlängert worden, ich bin optimistisch, dass sich die Intensivbelastung in Wien positiv entwickeln wird. Ich gehe davon aus, dass die saisonalen Effekte sowie die Impfeffekte uns nun doch in die richtige Richtung weisen.

Wann werden wir das Schlimmste überstanden haben?
Ich denke, im Laufe des Mai. Und wenn wir vernünftig handeln, wird auch der nächste Winter besser als der letzte.

Die Zahlen müssen sinken, denn je mehr Infektionsgeschehen, desto größer die Wahrscheinlichkeit von Mutationen. In Tirol sorgt, das sagt auch Andreas Bergthaler, eine Variante von B.1.1.7 mit der Mutation E484K für Sorgenfalten. Was macht diese Variante besonders, was muss man dazu wissen?
Sie ist ähnlich der südafrikanischen Variante und eine sogenannte immunologische Fluchtmutante. Das bedeutet, eine Impfung oder eine durchgemachte Infektion schützen nicht so gut vor einer Infektion. Es gibt diese Variante schon länger, in Einzelfällen weltweit. Aber es gab nie einen großen Ausbruch. Tirol ist tatsächlich der größte dokumentierte Ausbruch, soweit wir das überblicken können. Es sind weit über 300 Fälle insgesamt.

Wie kann man diese Variante eindämmen?
Ich denke, ein Rückgang zeigt sich erst, wenn sich der volle Impfschutz nach der zweiten Dosis entwickelt hat. Wieso? Das Problem ist, dass wir ein seltenes Ereignis in Schwaz haben. In einem Bezirk wurden innerhalb einer Woche 46.000 Menschen geimpft, diese waren dann drei bis vier Wochen teilimmun. Unter dieser Teilimmunität setzen sich die immunologischen Fluchtmutanten besser durch. Das herkömmliche Virus wird mit der ersten Teilimpfung schon gut unterdrückt, die Fluchtmutanten erst nach der zweiten. Ich denke, so zehn Tage nach der zweiten Impfung, in Zusammenspiel mit den saisonalen Effekten und den anderen Maßnahmen, wird man dieser Variante Herr werden.

In Schwaz ist die zweite Runde der Impfungen angelaufen bzw. fast abgeschlossen? Gibt es schon Erkenntnisse?
Die erste Überraschung war, dass sich die südafrikanische Variante sehr gut kontrollieren ließ. Maßnahmen wie Testen, Contact Tracing, Isolieren bzw. Quarantäne wurden stringent umgesetzt. In Südafrika hat sich B.1.351 durchgesetzt, aber in Tirol hat diese Variante dies nicht geschafft. Wenn diese Variante so ansteckend gewesen wäre wie die britische, hätte aber diese Maßnahmen alles nichts genutzt. Wenn die Zahlen nicht zu hoch sind, und wenn Maßnahmen konsequent durchgeführt werden, ist die Testungsstrategie sehr effizient, das war die zweite Überraschung. Wenn die Inzidenz unter 100 ist, dann funktioniert diese Strategie am besten.

Wie sieht es etwa mit der Weitergabe des Virus nach einer Impfung aus?
Nach der zweiten Impfung muss man davon ausgehen, dass das Virus deutlich schlechter weitergegeben wird – wenn man sich überhaupt noch infiziert. Man spricht von etwa fünf bis zehn Prozent, die sich mit vollem Impfschutz infizieren können.

Sie warnen schon länger, man solle sich gewissenhaft auf den Herbst vorbereiten. Welche Vorbereitungen sollten getroffen werden?
Wir wissen etwa nicht, wie viele Teile der Bevölkerung einen Immunschutz haben und vielleicht nur eine einzige Impfung brauchen würden. Die Schätzungen reichen von zehn bis zu 30 Prozent. Dann bräuchte es eine klare Strategie, ab welchen Zahlen wir welche Maßnahmen ergreifen, damit wir eine Inzidenz von 100 nicht mehr überschreiten und wir uns mit deutlich unter 50 über das Jahr retten. Wir müssen die Menschen darauf vorbereiten, dass nur konsequente Maßnahmen einen Lockdown im nächsten Herbst und Winter verhindern können – neben den Impfungen. Kontaktpersonen müssen angegeben werden, sonst brauchen wir wieder einen Lockdown, und so macht das Leben auf Dauer keinen Spaß. Impfstoffe für Kinder bzw. Jugendliche werden noch in diesem Jahr zugelassen werden, man sollte sich frühzeitig überlegen, wie man Impfkampagnen für diese Altersgruppen aufsetzt, damit wir die Schulen nicht mehr schließen müssen.

Sie haben Anfang des Jahres recht deutliche Worte gefunden zur Lage in Tirol, und mussten dann viel Kritik einstecken. Haben Sie mit dieser Reaktion gerechnet?
Ich lebe als deutsche Frau seit 12 Jahren in Tirol. Es war nicht die erste Situation, in der ich von einem Teil der Bevölkerung nicht viel Freundlichkeit erfahren habe. Aber gerade von Frauen habe ich viel Zuspruch erfahren. Aber ich habe auch viele Menschen erlebt, die sehr merkwürdige Verhaltensweisen mir gegenüber an den Tag gelegt haben. Das Nicht-Gehör-Finden, weil es doch eine alte, traditionelle Gruppierung von Männern gibt, die in Tirol das Sagen hat, das war für mich keine neue Erfahrung. Ich hatte ja versucht, mit der Landesregierung in Kontakt zu treten. Ich habe es auch bei der Bundesregierung versucht, die war sofort in Alarmbereitschaft. Rudolf Anschober hat dann versucht, Überzeugungsarbeit zu leisten, erst danach bin ich in einem Interview deutlich geworden.

Überlegt man sich als Wissenschaftlerin nach Reaktionen wie diesen, es zu lassen, sich nicht mehr zu äußern? Oder ist es aus Ihrer Position heraus sogar einfacher?
Irgendjemand muss sich in einem solchen Moment unbeliebt machen. Die Politik kann das nicht so einfach, denn sie will wiedergewählt werden. Es musste also jemand sein, der seinen Job nicht gefährdet, wenn er wissenschaftliche Tatsachen von sich gibt. Da bleibt nur die Wissenschaft. Im Normalfall müssen wir uns nicht in die Politik einmischen. Aber wenn man sieht, die Hütte brennt … Mein Vater war etwa einer der ersten Klimaforscher, mein Großvater hat gegen die Nazis gekämpft. Es liegt in der Familientradition, nicht den Mund zu halten, um beliebt zu sein.

Sie arbeiten wissenschaftlich, Sie kommunizieren diese Erkenntnisse. Wie geht es Ihnen damit, wenn Sie sehen, dass konträr zu diesen Erkenntnissen von der Politik gehandelt wird?
Am Ende halte ich mich dann raus. Ich kann nur sagen: Was müssen wir tun, um Menschenleben zu retten. Das ist eine relativ einfache Aussage. Aber die psychologischen, wirtschaftlichen, die Bildungseffekte, das sind langfristige Betrachtungen, die muss die Politik treffen. Und die Politik macht in weiten Teilen einen guten Job, das soll erst einmal einer besser machen.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober ist am Dienstag zurückgetreten. Wie schätzen Sie diesen Rücktritt ein?
Ich habe es zutiefst bedauert, dass Herr Anschober zurückgetreten ist. Für mich war er ein Lichtblick in dieser Pandemie. Einer, der immer offen war für alle Diskussionen, und der versucht hat, immer abzuwägen: Wie viele Menschenleben können wir retten, zu welchen Kosten? Das ist eine Frage, die so schwierig zu beantworten ist. Aber Herr Anschober hat es versucht. Er hat mit Anstand agiert, ohne Ellbogen. Ich finde es ausgesprochen schade, dass gerade diese mit wenig Ellbogen behafteten Menschen zurücktreten.

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