Etwas über meine Kindheit, meine Jugend zu erzählen, geht immer von einer gespeicherten Erinnerung und deren Einbettung aus: die Familie, die Tiere, die wechselnden Kinderfrauen (es war ein ständiges Kommen und Gehen damals), Krieg und Nachkriegszeit, der See, die Berge, das Dorf und die vielen Menschen, die es nicht mehr gab und für die ich beten sollte, ohne sie näher kennengelernt zu haben. Wie meinen Vater und drei seiner Brüder, den Bruder meiner Mutter, die Mutter meiner Mutter, immer wieder Tote, von denen mir erzählt wurde.

Peinlichkeit des Nichthabens

Dazu die Erinnerungen meiner Mutter, der Mutter meines Vaters sowie seiner Schwester, die ich in meinem Kopf als Erzählungen aufbewahrte und die ein Leben lang abrufbar blieben. Zu meinen frühen Jahren gehörten nicht nur Verluste, sondern auch der Mangel an sich. Ich will gar nicht aufzählen, was es alles aus heutiger Sicht nicht gegeben hat. Einerseits, weil ich es gar nicht als Mangel begriff, andererseits lernte ich die Peinlichkeit des Nichthabens kennen, sobald ich aus dem Dorf heraus und in ein Internat kam. Alles secondhand damals, die Zeit der Hausschneiderinnen, die fürs Haus oder – so eine Nähmaschine vorhanden war – im Haus schneiderten.


Was sich wie Stoff anfühlte, wurde aufgetrennt und umgeändert. Vorhänge mit gefälligem Design waren besonders gefährdet, aber auch Mäntel, die an manchen Stellen abgewetzt waren, wurden gewendet und zu neuen Mänteln für die Kleineren zusammengefädelt. Ununterbrochen wurde gestrickt. Langarmpullover mit Löchern an den Ellbogen erwachten als ärmellose Pullunder zu neuem Leben, und wenn die Wolle selbst dafür nicht mehr reichte, wurden Kniestrümpfe oder Socken draus. Im Internat gab es eine Uniform, dunkelblauer Faltenrock und weiße Bluse, die aber von Jahr zu Jahr weniger verbindlich wurde.

Schlechtes Geschäft, üppige Träume

Die Mädchen aus den wohlhabenderen Familien kamen mit immer kesseren Sachen aus den Ferien zurück und die Nonnen gaben klein bei. Unter anderem weil es an Personal fehlte, die vielen weißen Blusen ständig zu waschen und zu bügeln. Dazu kamen die Sommergäste, die mir am deutlichsten zeigten, was Garderobe bedeutete. Das Hotel war seit dem Beginn der fünfziger Jahre in der Krise, doch es dauerte bis zum Ende der Fünfziger, bis auch meine Mutter es glaubte und aufgab.

Der Schuldenberg wurde durch einen Notverkauf zwar verringert, ihn zur Gänze abzutragen wollte ihr aber nicht gelingen.

Langsam begann ich während der großen Ferien, die ich im Dorf verbrachte, mir meine Zukunft vorzustellen. Als Afrikaforscherin, als Tierärztin, als Zirkusakrobatin, besser gesagt als Kunstreiterin. Ich hatte, meiner Meinung nach, Erfahrung im Umgang mit Pferden. Das Pferd des Kutschers, der mit seiner Frau bei uns im kleinen Haus wohnte und den Garten und die Haustiere betreute, ließ mich oft genug auf sein Pferd steigen, während er den Wagen mit Holz belud.

Da saß ich dann eine Zeitlang, erzählte dem Pferd, das seinen Hafersack umhängen hatte, vom Zirkus, der sich jedes Jahr für ein paar Wochen auf der Wiese zwischen Hotel und See niederließ, und was dessen Pferde alles konnten. Wenn dann das Pferd seinen Sack leergefressen hatte und schnaubend am Boden nach verstreuten Körnern suchte, rutschte ich an seinem Hals hinunter, wobei es mich, sobald ich zu seinem Kopf kam, regelmäßig in die Höhe schubste. Das Kunststück, das wir auf diese Weise trainierten, war, dass ich dabei nicht auf den Hintern fallen, sondern auf den eigenen Füßen zu stehen kommen sollte.

Gebrauchsschwach

Ich dachte mir auch ein Kostüm dafür aus. Weiße Shorts mit Gummizug, die das Kind einer französischen Familie letztes Jahr im Hotel vergessen hatte. Die Familie kam dieses Jahr jedoch nicht wieder, weil es in ihre Suite hineingeregnet hatte. Dazu machte ich mir aus dem rotgrünen Seidentuch, das noch immer existierte, eine Art Büstenhalter, um meine noch kaum wahrnehmbaren Brüste zu verstecken, indem ich es in der Mitte mit einem Schuhband raffte, dann zweimal um meinen Oberkörper wickelte und die Enden mit der Raffung verknüpfte.

Kurzfristig hatte ich auch an Kunstschwimmerin gedacht, aber meine Badeanzüge erwiesen sich immer vor Sommerende als gebrauchsschwach. Entweder weil der aus Trikot zu lasch wurde oder der gestrickte immer mehr einging und der geschenkte gebrauchte von Anfang an zu groß war, sodass ich meist erst aus dem Wasser stieg, wenn die anderen Kinder bereits nach Hause gegangen waren. Die Afrikaforschung war mittlerweile ebenfalls in zu große Ferne gerückt, und um Tierärztin zu werden, würde ich wie der Tierarzt im Dorf eine Praxis mit vielen medizinischen Instrumenten brauchen, ein, wie es aussah, unerfüllbarer Wunsch, der mit den Jahren zusehends verblasste.

Ich las die Hotelbibliothek leer, erfuhr dabei eine Menge über das Scheitern von Liebesbeziehungen, las im Geheimen die Kriminalromane aus dem Regal meiner Mutter, vor allem die aus der gelbgrünen Bärenbuch-Reihe. Und als ich Sex und Crime durchhatte, brachte mir meine Tante ein Balladenbuch. Da ich fast alles, was sie mir sonst an Büchern gebracht hatte, langweilig fand, zeigte ich wenig Interesse.

Zeitrafferton

Die Tante hatte es kapiert: Weißt du was, ich lese dir daraus ein paar Balladen vor, und wenn sie dir nicht gefallen, nehm ich das Buch wieder mit. Ich mag es nämlich sehr. Dann las sie. Und ich fing Feuer, Feuer, Feuer. Das alles konnte man also mit Wörtern machen. In meinem Bauch kribbelte es wie zuvor nur beim Lesen der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Mir fiel auf, dass ein Wort mehrere Bedeutungen haben konnte, dass es sich mit einem anderen reimen ließ und ein Gefühl zu beschreiben wusste, ohne dass seine Buchstaben dabei traurig oder lustig wurden. So spreche ich zumindest heute im Zeitrafferton davon. Immer öfter begann ich mich zu fragen, warum der Berg einen Gipfel, aber keinen Wipfel haben durfte, das Meer zwar einen Busen, aber keine Brust, warum einen der Schlag treffen konnte, aber nicht ein Schlager. Weshalb enthaupten nicht das Gegenteil von behaupten war und die Spiegeleier nie in den Spiegel schauten.

Barbara Frischmuth mit ihrer Mutter 1944
© Privat

Es brauchte seine Zeit, bis die Antworten sich in Form kleiner blitzartiger Erleuchtungen einstellten und damit erinnerungstauglich wurden, eingebettet in das Umfeld von Alphabet, Wörtern und Grammatik. Und mir wurde klar, dass, wenn es ans Eingemachte ging, nämlich das Selberschreiben, man es genauso lernen musste wie Lesen oder Schwimmen, Satz für Satz, Tempo für Tempo. Als ich die erste Geschichte, die ich schrieb, meiner Mutter zeigte, lachte sie einigermaßen empört. Anhand eines Details war sie draufgekommen, dass ich zumindest einen ihrer Krimis gelesen haben musste. Damals war ich in der Volksschule.

Die Kinderfrau, die sich hauptsächlich um den kleinen Bruder kümmerte, hielt die Geschichte für grässlich (sie handelte von Wasserleichen) und die Frau des Kutschers fand sie zwar spannend, meinte aber, ich solle doch lieber erst die Eier zählen, die die Hühner tagsüber gelegt hätten, als die Leichen im See. Aber in diesem Fall habe ich nicht aufgegeben.

Nicht bis zum heutigen Tag.

Barbara Rieger / Alain Barbero. Kinder der Poesie
© Kremayr & Scheriau
Barbara Frischmuth: "Verschüttete Milch", Aufbau Verlag, 286 Seiten, 22,70 Euro
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