Neue Explosionen, Evakuierungen, Angst vor Giftwolken: In der chinesischen Hafenstadt Tianjin ist die Lage - nach dem verheerenden Unglück in einem Gefahrgutlager - alles andere als unter Kontrolle. In einem Umkreis von drei Kilometern ordneten die Behörden am Samstag Evakuierungen an, während laut Medien neue Explosionen zu hören waren. Die Zahl der Todesopfer stieg auf 112.

Vier Tage nach der Katastrophe wurden noch 95 Menschen vermisst, darunter 85 Feuerwehrleute, wie die Behörden nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua berichteten. Damit stieg die Zahl der vermissten Feuerwehrleute drastisch.

Angst vor Giftwolken

Die Menschen in der Nähe des Gefahrgutlagers wurden wegen der Befürchtung in Sicherheit gebracht, dass sich "giftige Substanzen ausbreiten" könnten, wie Xinhua meldete. Zuvor war bekannt geworden, dass sich in dem Lager, das am Mittwochabend durch gewaltige Explosionen und Brände zerstört worden war, auch die hochgiftige Chemikalie Natriumcyanid befindet.

Medienberichten zufolge könnten sich 700 Tonnen der Substanz in dem Lager befunden haben. Der Kontakt mit Natriumcyanid kann tödlich sein. Einem Bericht zufolge wurde die giftige Chemikalie auch in Abwasserproben in der Gegend nachgewiesen.

Das seit Tagen andauernde Feuer in dem Gebiet wurde am Samstag wieder stärker und eine Reihe neuer Explosionen ließ schwarze Rauchsäulen aufsteigen, wie Xinhua berichtete. Mindestens 20 Feuerwehrwagen rasten in das Sperrgebiet; am Rande der Evakuierungszone wurden Schutzmasken an Rettungskräfte und Polizei ausgeteilt. Es waren auch Soldaten, die auf die Bekämpfung von Chemiewaffen spezialisiert sind, im Einsatz. Experten von Produzenten von Natriumcyanid wurden laut Behörden ebenfalls an den Unglücksort gerufen.

721 Menschen im Spital

Durch die gewaltigen Explosionen, die sich am späten Mittwochabend in einem Lagerhaus für Gefahrgut ereignet hatten, kamen nach neuen Angaben mehr als 100 Menschen ums Leben. Unter den Toten sind den Behörden zufolge 21 Feuerwehrleute. 721 Menschen kamen ins Krankenhaus, von denen mehr als zwei Dutzend noch in Lebensgefahr schwebten.

Am dritten Tag nach dem Unglück habe ein Team von 70 Spezialisten des Militärs für den Umgang mit gefährlichen Chemikalien nur 50 Meter vom ursprünglichen Explosionsort einen Mann noch lebend in den Trümmern entdeckt, berichtete Xinhua. Er habe Brandverletzungen erlitten, sei aber in stabilem Zustand.

Aufgebrachte Angehörige von Opfern und Anrainer protestierten am Samstag am Rande einer Pressekonferenz. Sie warfen den Behörden mangelnde Transparenz und fehlende Informationen vor. "Niemand hat uns etwas gesagt", schrie eine Frau, die dann von Sicherheitskräften weggebracht wurde. Mehr als 360 Online-Konten von Nutzern sozialer Netzwerke wurden laut Xinhua geschlossen, weil sie "Gerüchte" über das Unglück verbreitet hätten. So seien "unverantwortliche" Kommentare ins Netz gestellt worden, in denen die Explosionen mit dem US-Atombomben-Abwurf über Japan im Zweiten Weltkrieg verglichen worden seien.

Ursache bleibt unklar

Unklar war nach wie vor, ob nicht die Feuerwehr beim anfänglichen Löschen eines Brandes mit Wasser eine chemische Reaktion auslöste, die letztlich zu den verheerenden Explosionen führte. Der Feuerwehrchef von Tianjin, Lei Jinde, versicherte zwar, seine Leute seien richtig vorgegangen. "Wir wussten, dass Kalziumkarbid dort war, aber wir wissen nicht, ob das Kalziumkarbid explodierte und Feuer fing", sagte er jedoch der Agentur Xinhua. Nach seinen Angaben befanden sich in dem Lager auch Ammoniumnitrat und Kaliumnitrat.

Die Behörden hatten zuvor mehrfach versichert, dass die Belastung der Luft mit toxischen Gasen unterhalb der gesundheitsgefährdenden Schwelle liege. Nur einzelne Stoffe hätten die Grenzwerte überschritten. Bei den Explosionen wurde das Industriegebiet am Hafen der 15-Millionen-Einwohner-Stadt rund 140 Kilometer südöstlich von Peking in weiten Teilen verwüstet. Zahlreiche Gebäude, Schiffscontainer und Neuwagen, die dort zwischengeparkt waren, wurden völlig zerstört.

Verstoß gegen Auflagen

Nach Angaben der Zeitung "People's Daily" verstieß das Gefahrgutlager klar gegen bestehende Sicherheitsauflagen, vor allem gegen die Regelung, wonach gefährliche Materialien mindestens einen Kilometer von umliegenden Gebäuden und Straßen entfernt untergebracht werden müssen.

Das Unglück ist ein schwerer Schlag für das Wirtschaftszentrum Tianjin, das ein wichtiger Umschlagplatz ist. Der Binhai Distrikt trägt zu 55 Prozent zur Wirtschaftsleistung der gut eine Stunde von Peking entfernt gelegenen Zehn-Millionen-Einwohner-Metropole bei. Tausende Autos, darunter Volkswagen und Renault, wurden zerstört. VW verlagerte seine Neuwagen-Transporte nach dem Unglück nach Shanghai und Guangzhou, wie Xinhua berichtete. 40 Prozent aller importierten Autos kamen über den Hafen von Tianjin nach China.