Wir schreiben das Jahr 1989: George Bush sen. wird im Jänner amerikanischer Präsident. In Österreich regierte die große Koalition unter Franz Vranitzky, Vize Alois Mock und später Josef Riegler. Im März stellt Tim Berners-Lee, ein junger britscher Informatiker, der am Kernforschungszentrum Cern in der Schweiz arbeitet, das „www“, das Word Wide Web vor. Und, auch wichtig, Marcel Hirscher wird geboren. Im Radio wird der Hit „Don’t Worry, Be Happy“ von Bobby McFerrin auf- und abgespielt. Im November fällt die Berliner Mauer.

Auch in Gleisdorf tut sich Sensationelles, wenn auch wenig Beachtetes: Eine kleine Gruppe junger Menschen – Eltern behinderter Kinder und Sonderschullehrer, unter ihnen Franz Wolfmayr – läuten eine in der Oststeiermark bis dahin undenkbare Kultur im Umgang mit behinderten Menschen ein; eine Kultur, in der behinderte Menschen mittendrin sind.

Ein Anfang, unvorstellbar nerven- und körperlich kräfteraubend, eine persönliche Herausforderung für alle Beteiligten, die nicht nach acht Stunden Arbeit endet. Und mitten drin, als Herz und Hirn nach außen und innen, ist Franz Wolfmayr – ein Sonderschullehrer, der mit seiner Frau Kinder unterrichtete, die man heute als „lernschwach“ bezeichnen würde.

Ein Foto aus der Anfangszeit der Chance B.
Ein Foto aus der Anfangszeit der Chance B. © Chance B

Menschen mit Behinderung waren damals zu Hause, oft voller Scham vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten, oder in der Psychiatrie. „1986 haben uns Eltern behinderter Kinder gefragt, ob ihre Kinder nicht auch in unsere Schule gehen können. Und wir haben gesagt: ,Nehmen wir sie halt‘“, erinnerte sich Wolfmayr 2019 zum 30-Jahr-Jubiläum der Chance B. Er, seit 2015 in Pension, machte die Organisation als deren Geschäftsführer mit 500 Beschäftigten zu einem der größten Arbeitgeber in Gleisdorf.

Vier Kinder starteten so ihre Schulkarriere, ein Bub darunter, zwölf Jahre alt, der bisher nur in der Psychiatrie gelebt hatte. Seine Zeit dort hatte er in der Zwangsjacke, an den Heizkörper angebunden, verlebt, weil er keine anderen Muster als Essen und Zerstören kannte. „Es hat Tage gegeben, da habe ich ihn drei Stunden lang nur gehalten, weil er ja auch aggressiv war“, erzählte Wolfmayr in einem früheren Interview, und weiter: „Beim Essen hat er sich beruhigt, also haben wir das Unterrichtskonzept ums Essen aufgebaut.“ Auch die Eltern waren überfordert und riefen den jungen Lehrer oft auch am Wochenende an, er möge doch bitte kommen, weil der Bub schon wieder der Oma nachlaufe.

Auch der junge Wolfmayr wuchs an seinen Aufgaben. Bald übernahm er die Geschäftsführung der inzwischen gegründeten Chance B GmbH. Mit seinem Team lotete er aus, was die Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen benötigten, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu können. Und darüber hinaus, was sie früher gebraucht hätten.

Ein neues System der Förderung

So entwickelte man etwa das System der mobilen Frühförderung, die ins Haus kommt. Bis dahin hatte es diese Form nicht gegeben und Eltern mussten oft eine Stunde mit dem Auto oder Bus zur Frühförderung anreisen. Oft aber war das Kind nach der langen Fahrt oft nicht mehr bereit, mitzutun. Also schwenkte man um und kam einfach ins Haus.
Findig baute Wolfmayr Konzepte rund um das Leben eines behinderten Menschen auf: Wie sollte er vom ersten Tag an gefördert werden, was brauchte es in der Schule, was, um Arbeit zu finden, was, um alleine leben zu können? Rund um diese Themen entstanden Angebote in Gleisdorf und von Gleisdorf aus.

Nicht genug damit, der Mann, den die wenigsten Menschen je mit erhobener Stimme gehört haben, der auch in emotionalsten Augenblicken nach außen hin ruhig blieb, trieb so manchem Soziallandesrat die Zornesröte ins Gesicht. Denn so zurückhaltend Wolfmayr auch auftritt, so beharrlich ist er in der Sache, in der es immer um eines geht: die Rechte behinderter Menschen auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben mit allen Hilfeleistungen, die eine Gesellschaft bieten kann.

Kein Ruhestand in der Pension

In seiner Pension hat Wolfmayr mit Partnern ein national wie international tätiges Beratungsunternehmen aufgebaut (siehe Infokasten). Wer Muße hat, kann auf der Homepage von „Zentrum für Sozialwirtschaft“ die Liste der nationalen und internationalen Projekte durchackern, an denen Wolfmayr mitgearbeitet hat, um eben dieses Ziel zu erreichen: Die Gesellschaft, in der wir leben, zu einer besseren zu machen.