Frau Sorgo, nach einer Serie von Frauenmorden heuer die Frage an Sie als Leiterin des Steirischen Gewaltschutzzentrums: Was ist los in Österreich? In keinem EU-Land gibt es deutlich mehr Morde an Frauen als an Männern.

MARINA SORGO:
Das stimmt, die Relation zwischen Männer- und Frauenmorden ist heftig und jeder einzelne Fall ist tragisch und einer zu viel. Allerdings sollte man miteinbeziehen, dass Österreich grundsätzlich ein sicheres Land ist, in dem die Gesamtzahl der Morde im Vergleich zu anderen Ländern niedrig ist.

Was müsste passieren, um die Zahl der Gewaltopfer weiter zu senken?

Generell ist wichtig, dass die Opfer- und Täterarbeit weiterhin in Facheinrichtungen verankert ist, die professionell arbeiten. Ich halte es auch für wichtig, mehr Geld für Öffentlichkeitsarbeit auszugeben. Viel mehr. Jeder soll wissen, wo Gewaltschutzeinrichtungen zu finden sind, wenn er oder sie Hilfe brauchen. Wir können nur Menschen unterstützen, die zu uns kommen oder zur Polizei. Und wir müssen Eltern möglichst früh unterstützen, damit sie gewaltsame Konfliktlösungsmodelle nicht an ihre Kinder weitergeben.

Beraten Sie im Gewaltschutzzentrum ausschließlich Frauen?

Nein, rund 80 Prozent der von uns betreuten Personen sind weiblich. Bei den männlichen Opfern sind es Männer in Paarbeziehungen oder Kinder und Jugendliche, die Gewalt von Familienangehörigen erfahren. Mehr als 90 Prozent der Gefährder, mit denen wir zu tun haben, sind jedoch Männer.

Die Tatsache, dass afghanische Asylwerber verdächtigt werden, eine 13-Jährige in Wien umgebracht zu haben, hat die Diskussion um „importierte Gewalt“ wieder entfacht. Was sehen Sie da in Ihrer Arbeit?

Was wir generell sehen, ist der Umstand, dass Männer, die in patriarchalen Systemen aufwachsen und geprägt werden, oftmals lernen, sich mit Gewalt durchzusetzen. Druck, Macht und Kontrolle sind erlernte Mittel, ihr Männerbild aufrechtzuerhalten. Man muss allerdings sagen, dass auch Österreicher oft noch mit patriarchalen Vorstellungen leben, sie sind vielleicht nur weniger sichtbar.

Sehen Sie bei der Arbeit im Gewaltschutzzentrum Unterschiede zwischen Stadt und Land?

Am Land werden die Entscheidungen von Betroffenen, sich aus Gewaltbeziehungen zu lösen, oft durch die Familie und das soziale Umfeld stärker mitbeeinflusst. Und die Gefühle von Scham, Schuld und Mitverantwortung bei Betroffenen sind im ländlichen Bereich oft noch größer.

Hat das neue Gewaltschutzgesetz, das mit 2020 in Kraft trat, aus Ihrer Sicht nun etwas gebracht?

Auf jeden Fall. Fallkonferenzen bei Hochrisikofällen gab es etwa schon davor, sie wurden 2020 aber gesetzlich festgeschrieben und systematisiert. Das Annäherungsverbots auf 100 Meter hat sich bewährt. Was noch fehlt, sind die Beratungsstellen für Gewaltprävention für Menschen, die ein Betretungsverbot erhalten haben.

Sie haben vor Kurzem den Tätigkeitsbericht des Gewaltschutzzentrums Steiermark für 2020 vorgelegt. Was fällt besonders auf, wenn Sie auf das Ausnahmejahr zurückblicken?

Dass zum Glück die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfällen in Familien relativ gleichblieb, und nichg wie prognostiziert stieg. Sichtbarer geworden ist in diesem Ausnahmejahr Gewalt zwischen den Generationen, ausgehend von Jugendlichen oder erwachsenen Kindern an ihren Eltern. Und wir haben gemerkt, dass die Menschen in den Lockdown-Zeiten viel mehr Zeit zum Reden hatten als sonst, wir haben Stunden am Telefon verbracht.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es in dieser Krisensituation nicht zu einem markanten Anstieg der Fälle kam, die bei Ihnen landen?

Die Menschen haben in diesen Monaten wahrscheinlich mehr Konflikte gehabt, waren oftmals auf engem Raum zu Hause, vieles war ungewiss, sodass schwelende Problemstellungen deutlicher und komplexer geworden sind und sich zugespitzt haben. Aber ich denke, die Art und Weise, wie man in einer Familie grundsätzlich mit Konflikten umgeht, hat sich durch Corona nicht wesentlich verändert.

Etwas untergegangen ist im Coronajahr, dass das Gewaltschutzzentrum 25. Geburtstag gefeiert hat. Wenn Sie in die Anfangsjahre zurückblicken …

Ich bin von der damaligen Frauenministerin Helga Konrad gebeten worden, die Interventionsstelle - wie sie damals hieß – aufzubauen, sie war ein Pilotprojekt und die erste in Österreich. Wir waren anfangs zu zweit, Barbara Jauk als Juristin und ich als Sozialarbeiterin, heute sind wir ein 26-köpfiges Team. Am Anfang unserer Arbeit geschah 1997 mit dem ersten Gewaltschutzgesetz ein unglaublicher Paradigmenwechsel. Die Wegweisung mit dem Betretungsverbot wurde eingeführt. Nicht mehr das Opfer musste das Haus verlassen, die Polizei hatte plötzlich ein Instrument in der Hand, denjenigen wegzuweisen, der schlägt und droht. Das war damals europaweit einzigartig und hat auch viel Gegenwind verursacht.