Er stellt sich und eine gesamte Nation vor ein großes Rätsel. Gregor Schlierenzauer, einstiger Schanzen-Dominator, mit 53 Weltcupsiegen überragender Rekordhalter, fliegt nicht mehr. Nein, der Tiroler quält sich nur noch über die Bakken dieser Welt, die einst seine große Bühne formten und ihn zu einem noch nie da gewesenen Skisprungstar emporhoben. Heute erntet er statt des tosenden Applauses nur noch Mitleid. Mit der Nichtnominierung für die Nordische Weltmeisterschaft vor der Haustür des Stubaiers musste Schlierenzauer einen weiteren schweren Tiefschlag in seiner einst von Glanz und Glorie getragenen Karriere hinnehmen. Doch wie konnte es zum kapitalen Absturz des ehemaligen „Super-Adlers“ kommen? Warum harmoniert das einst so perfekt funktionierende Duo Schlierenzauer/Thermik nicht mehr?

Als der Fulpmer im März 2006 erstmals im Weltcup auftauchte, war der damals 16-Jährige bereits mit Vorschusslorbeeren ausgestattet. „Aus dem wird ein ganz Großer“, war da bereits aus den Reihen des ÖSV zu hören. Zu Recht: Bei seinem Debüt in Oslo wurde Schlierenzauer auf Anhieb 24., zu Beginn der neuen Saison im ersten Bewerb in Lillehammer gleich Vierter. Einen Tag darauf winkte der auf dem linken Ohr taube Tiroler bereits erstmals als Sieger vom Podest. Es war der Beginn einer nicht aufzuhaltenden Erfolgslawine.

Schlierenzauer entthronte Felder

Bereits 2009 überflügelte der damals erst 19-Jährige mit seinem 26. Weltcupsieg den bis dahin österreichischen Rekordhalter Andreas Felder und schloss die Saison mit sagenhaften 13 ersten Plätzen ab. In den folgenden Jahren baute Schlierenzauer seine Erfolgsliste spielerisch aus, holte auf den Schanzen alles, was es zu gewinnen gab. Einzig Einzel-Gold bei Olympia blieb ihm verwehrt. In der Saison 2013/14 erhielt seine Laufbahn einen ersten Knacks, die längst zur Gewohnheit gewordenen Erfolge blieben immer öfter aus. Und so war es der 6. Dezember 2014, als Schlierenzauer am Ort seines allerersten Triumphs auch seinen bislang letzten Sieg feiern durfte. Doch war dies bereits bei einer Windlotterie nur noch ein Zufallsprodukt.

Seitdem ging es steil bergab. Beim Tiroler manifestierte sich ein hartnäckiges Formtief, er nahm sich mehrere Auszeiten, wurde durch diverse Verletzungen (Kreuzbandriss im März 2016) zurückgeworfen, versuchte sich oft zurückzukämpfen. Doch die große Zeit von Schlierenzauer war vorbei. Die Gründe? Vielfältig. Schlierenzauer, für seinen extremen Ehrgeiz bekannt, begann, akribisch an Material und Technik zu tüfteln – in einer so sensiblen Sportart wie Skispringen, in der ein freier Kopf die Hauptrolle spielt, ein eingeschlagener Weg mit fatalen Folgen. Zudem kam dieses Abbiegen viel zu spät.

Material, Anfahrtshocke und Co.

Das Material hatte sich weiterentwickelt, Schlierenzauer viel zu lange auf Altbewährtes gesetzt. Wie etwa bei der Bindung: Sprang die gesamte Konkurrenz längst mit der neuen Stabbindung, vertraute der Österreicher weiter dem Bindungsband. Auch seine Anfahrtshocke, die ihn viele Jahre positiv unterstützte, geriet ihm zum Nachteil. Hatte Schlierenzauer einst den Vorteil, dank seiner O-Beine nach dem Absprung schneller die ideale Flugposition einzunehmen, so ging dieser Bonus durch die neue Bindung verloren.

Schlierenzauer muss sich aber auch den Vorwurf einer gewissen Beratungsresistenz gefallen lassen. Bereits mehrmals in den vergangenen Jahren wurde dem einstigen Zugpferd vom ÖSV ein Betreuer für Einzeltraining zur Verfügung gestellt. Vergebens. Keiner konnte ihm helfen. Oder besser: Der einstige Superstar ließ sich nicht helfen. Den Rat, den längt nötigen Resetknopf zu drücken und noch einmal von null zu beginnen, hat Schlierenzauer bis heute noch nicht angenommen.
Aufgeben will er aber nicht. „Die WM zu verpassen, ist sehr bitter. Aber ich habe alles versucht, kann mir nichts vorwerfen. Es ist für mich eine fordernde Zeit, aber ich kann daraus für mich viel mitnehmen. Ich brenne noch immer und sehe mich noch zwei, drei Jahre im Spitzensport. Ziel ist es, wieder ganz oben zu stehen und einfach lässig Ski zu springen.“

Die Zeit wird es weisen.