Als unsere kleine österreichische Pressedelegation in der O2-Arena auf einen Interviewtermin mit Dominic Thiem wartete, humpelte plötzlich Boris Becker in den rosa ausgeleuchteten Raum, der bei Popkonzerten den Musikern als Backstagebereich dient. Der Deutsche begann sogleich unaufgefordert Englisch mit uns zu reden, ehe wir ihn auf Deutsch aufklärten, warum wir hier seien. Dann zog der "Rote Baron" wieder von dannen. Auf die nachgerufene Frage, was ihm denn fehlen würde, erklärte er: "Ich habe mir mein Außenband reparieren lassen."

Es ist nicht die erste Operation, der sich Becker unterziehen musste. Die Karriere hat beim Deutschen, der immerhin dreimal das ATP-Finale gewinnen konnte (1988, 1992, 1995), seine Spuren hinterlassen. Aber immerhin hat "Bobele" den saisonalen Kehraus dreimal öfter gewonnen als Rafael Nadal. Denn erstaunlicherweise zählt das ATP-Finale noch zu den ganz wenigen Events auf der Tennis-Tour, wo sich der Spanier noch nie in die Siegerliste eintragen konnte. Zweimal stand der "Matador aus Manacor" hier im Endspiel (2010, 2013), sechsmal musste er hingegen bereits für den saisonalen Kehraus absagen.

Eigentlich kein Wunder, musste Nadals Körper doch Zeit seiner Karriere stets gegen Saisonende hin seinem physisch aufwendigen Spielstil Tribut zollen. Auch heuer hat der 19-fache Grand-Slam-Triumphator wieder mit körperlichen Problemen zu kämpfen. So zog sich der 33-Jährige vor dem Halbfinale beim Masters-Turnier in Paris-Bercy eine Bauchmuskelzerrung zu. Lange Zeit war gar nicht sicher, ob Nadal überhaupt nach London reisen würde - im heutigen Abendspiel gegen Titelverteidiger Alexander Zverev wird man sehen, wie es um die Fitness des Weltranglistenersten bestellt ist. Kann der Iberer übrigens nicht das Turnier fertig spielen, steht sein Landsmann Roberto Bautista Agut parat.

Fakt ist, dass Nadal (ob angeschlagen oder nicht) trotz seiner Nummer-eins-Position in der Halle nur eine Außenseiterrolle einnimmt. Der extreme Topspin des Spaniers verliert Indoor an Effizienz. Nur drei seiner 84 Titel hat er in der Halle geholt. Trotzdem stehen seine Chancen, das Jahr zum fünften Mal nach 2008, 2010, 2013 und 2017 als Nummer eins zu beenden und damit mit Federer und Djokovic gleichzuziehen, gut. So hat der heurige French- und US-Open-Sieger 640 Punkte Vorsprung auf Djokovic. Selbst wenn Nadal in der O2-Arena keinen Match gewinnen sollte, müsste der Serbe in London mindestens das Endspiel erreichen, um ihn noch abzufangen.

Fakt ist aber auch, dass Nadal ohne die vielen Rückschläge Federer wohl bereits als erfolgreichsten Spieler der Geschichte abgelöst hätte. Alleine heuer hat der frisch gebackene Ehemann seit dem Sieg in New York nur noch vier Matches bestritten. Sowohl am Laver-Cup in Genf wie auch in Paris-Bercy konnte er nicht zu Ende spielen. Bleibt für den Spanier nur zu hoffen, dass wenigstens hier in London sein Körper durchhält.