Es hätte der emotionale Höhepunkt der gestrigen Sportlergala in der Grazer List-Halle werden sollen: die Verleihung des "Styrian Sports Award 2018" an die Trainer-Legende Ivica Osim. Dann wurde daraus die Lobrede an einen Abwesenden. Osim, der große Melancholiker und Pestalozzi des Fußballs, musste tags zuvor ins Spital. Sein Gesundheitszustand ließ ein Kommen nicht zu, obwohl wir als Mitveranstalter bis zuletzt darauf gehofft hatten. Eine der vielen Anekdoten, die seine Karriere und Biografie umranken (danke, sturmnetz.at), bewog uns schließlich zu einer kurfristigen Abänderung des Ablaufs. Immer dann, wenn vor einem wichtigen Spiel die Mannschaftsaufstellung unter Dach und Fach war, soll Osim mit dem engsten Trainerstab einen Schluck Blended Malt Whisky getrunken haben, ersatzweise auch ein Stamperl Slibowitz aus der bosnischen Heimat. Wir baten also nach der Würdigung die Regie um zwei Gläser. Sie standen bereits dezent versteckt unter dem Rednerpult. Dann baten wir Franco Foda, den Teamchef und einstigen Osim-Schüler, auf die Bühne und stießen mit dem Publikum in der ausverkauften Halle auf den großen Abwesenden und seine baldige Genesung an. Wenn das Nationalteam Anfang Juni Brasilien und Deutschland geschlagen haben wird, wollen wir gemeinsam mit Foda Ivica Osim zuhause besuchen, ihm die Trophäe persönlich überreichen und uns dafür extra schön anziehen. Das haben wir mit dem Teamchef spät nachts an der Bar ausgemacht. Heute früh bricht er zeitig auf nach Wien und Innsbruck, um seine Teamspieler aus allen Buchten der Welt einzusammeln. Sebastian Prödl, Gast der Gala in feinem englischen Zwirn, nahm er gleich persönlich mit.

Hier die Rede, die ich gern in Gegenwart des Geehrten und Verehrten gehalten hätte:

Angeblich war Ivica Osim Fußballtrainer. Wir glauben das nicht. Ivica Osim war mehr. Er vermittelte nicht nur eine Idee vom Spiel, er vermittelte eine Idee vom Menschsein, eine Idee von der Welt, oder besser, einer Gegenwelt. Fußball sollte ein Stück Utopia sein, etwas, das der Wirklichkeit eine Perspektive aufspannt, über sie hinausweist.

Dieses Mehr treibt ihn an. Einmal, als er überall hätte hingehen können, ging er als Spieler nach Straßburg, nur weil dort ein Hochschulprofessor Trainer war. Die Begrenzungslinien haben ihn nur auf dem Rasen interessiert. Fußball sollte nie national sein, eng, abgrenzend, sondern das Gegenteil, er sollte Grenzen aufheben und sie obsolet machen. Es gibt nichts Weltumspannenderes, mit Ausnahme der Musik. Osim glaubt fest daran, dass Fußball etwas ganz anderes ist und nicht nationalistisch. Er glaubt noch immer, dass die, die mit dem Fußball verbunden sind, egal, welche Hautfarbe oder Religion sie haben, anders sind. Er glaubt, dass Fußball für sich selbst eine kleine einigende Religion ist. Der Spieler als Weltbürger, das ist seine Idee.

Im Zusammenspiel, in der Entfaltung einer gemeinsamen schöpferischen Energie, heben sich die Kategorien des Nationalen auf. Osim formte auch in Graz kein Nationalteam, sondern ein Team der Nationen, grenzenlos frei von Integrationsproblemen. Sidorczuk. Milanic. Popovic. Babalade. Minavand. Martens. Angibeaud. Foda. Gemeinsam erschufen sie einen eigenen Kosmos.

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Auch das jugoslawische Team, das Osim als Trainer leitete und zur Weltspitze heranführte, war natürlich kein Nationalteam im klassischen Sinne, kein nationalistisches Gebilde, nichts ethnisch Reines, sondern eine Idee, eine Vorstellung, eine Illusion. Osim träumte sie mit anderen Verträumten, Peter Handke zum Beispiel. Bei beiden muss man auf der Hut sein, wenn man in ihrer Gegenwart achtlos spricht. Spricht man Osim auf Huntington‘s Kampf der Kulturen an, kann der Visionär zornig werden. Kulturen kämpfen nicht, pflegt er zu erwidern, deshalb seien sie ja Kulturen. Weil sie keinen Krieg führen.

Dann führten sie ihn doch. Als sich 1992 die Wirklichkeit auf dem Balkan dem illusionären Traum in den Weg stellte, abgründig und monströs, brach für Osim eine Welt zusammen. Sarajewo, seine Heimat, auch ein Stück Utopia mit vier Weltreligionen in Gehweite voneinander entfernt, wurde zum dreijährigen Freiluftkerker der serbischen Belagerer. Osim, der Bosnier, war damals Trainer von Partizan Belgrad, der früheren serbischen Armeemannschaft. Er trat sofort zurück, als daheim das Morden losging. Später sagte er, es sei das Einzige gewesen, was er für seine belagerte Stadt tun habe können. Seine Stadt, wo sie ihn in frühen Jahren den „Strauß von Grbavica“ nannten, weil der junge Osim mit dem Ball so fiedelte wie der Walzerkönig aus Wien. Vor dem Bruderkrieg war es die einzige Stadt am Balkan gewesen, die ein multikulturelles Leben hatte. Zwei Glocken klingen besser als eine, pflegt Osim zu sagen. Und alle drei klingen wie ein Orchester. „Das ist es, was ich hören will.“

Den Krieg hat er empfunden wie das „Ende des Lebens“. Unsere Zeitung hat ihn einmal nach Sarajewo begleiten dürfen und wir spazierten gemeinsam durch einen der vielen Friedhöfe, heute noch Wahrzeichen der Stadt. Der Friedhof war früher ein Fußballplatz. So gebückt, so in sich zusammengesunken, haben wir Ivica Osim nie gesehen. Er sagt: „Ich kann nicht mehr jubeln. Ich kann sagen, die Meistertitel waren schön für die Spieler oder so. Ich kann mich aber nicht freuen. Ich bin zwar nicht tot, ich kann spazieren gehen, aber letztlich bin ich jemand, der nie geglaubt hat, dass so etwas in meiner Heimat passieren kann.“ Die stille Trauer und das Entsetzen waren der Grund, warum man ihn selbst in Augenblicken des Triumphs zurückhaltend und stoisch erlebte. In den Augen der Ahnungslosen war er ein Grantler. Misslang ein Tor in aussichtsreicher Lage, warf er seine mächtigen Arme nach oben und ließ sie Augenblicke später fallen, dass die Erde bebte, jedenfalls in der Erinnerung. Es war wie die Wehklage vom Dach der Welt, dass kein Gott sei.

Fragen nach Siegen, ob er stolz sei, verneinte Osim. Die Spieler sollen es sein und daraus lernen, um noch besser zu werden. Er selbst lerne nur aus Niederlagen. Besitzerstolz, der sich auf Äußerliches oder falschen Glanz bezog, verwarf er. Als Hannes Kartnig einen neuen Vereinsbus mit Stolz herzeigte, soll Osim erwidert haben: „Herr Präsident, ein Bus schießt keine Tore.“

Mut schon. Nur mutige Mannschaften schreiben Geschichte, sagt er, es gebe immer eine Möglichkeit, etwas mehr Selbstbewusstsein zu haben als der Gegner und etwas zu probieren. Mit Sturm schrieb er Geschichte. Der Ermöglicher des Unmöglichen. Über dem Schreib-tisch meines damaligen CR Erwin Zankel hing noch Jahre später eine ganzseitige Story aus der Bildzeitung mit dem Titel „Europas Sensation“. Die Spiele in der Champions League waren Popkonzerte. Was er den Spielern damals vorwarf: dass sie nicht gewusst hätten, wie gut sie eigentlich sind. Sonst wäre noch mehr möglich gewesen. Osim mochte seine Spieler, und ließ es sie ohne viele Worte spüren, wie jeder gute Pädagoge. Ein Pestalozzi des Fußballs.

Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren führte Ivica Osim Sturm Graz zum ersten Meistertitel. Die Erinnerung daran ist denkwürdig und ehrwürdig: Es sind jene magischen Momente, in denen man spürt, dass es eine gute Idee ist, auf der Welt zu sein, und in denen sich die Erde wieder zurück in eine Scheibe verwandelt, eine Meisterscheibe.

Meister-Würde, der Trainer verkörperte sie mit seiner Weisheit und Weltgewandtheit. Die Bilder und Emotionen bleiben Teil des kollektiven Gedächtnisses, der Stadt wie des Landes. Die Anekdoten, die ihn und seine acht Trainerjahre bei Sturm umranken, verdichten sich zum Menschenbild eines großen stillen Humanisten, der das Schlimmste gesehen hat und nicht aufhört, das Beste zu hoffen.

Der Styrian Sports Award 2018 geht an Ivica Osim.