Russland hat vor der Grenze der Ukraine Truppen zusammengezogen; viele befürchten eine Invasion. Seit dieser Woche führen Russland, die Nato und die USA Gespräche über einen Forderungskatalog Moskaus an die Nato, den Washington schon zurückgewiesen hat. Lässt sich die angespannte Lage mit Verhandlungen noch lösen?

EMIL BRIX: Wenn man an die russischen Forderungen in Bezug auf die Sicherheitspolitik in Europa denkt, haben wir eine gefährlichere Situation, als wir sie im Kalten Krieg hatten. Das muss man ehrlicherweise sagen. Und sie ist nicht leicht lösbar, weil diese beiden russischen Dokumente darauf hindeuten, dass es Russland in erster Linie darum geht, Stärke zu zeigen. Hier steht nicht im Vordergrund, bei Verhandlungen eine Lösung erreichen zu wollen. Trotzdem war es vernünftig, dass die USA bereit waren, in Verhandlungen einzutreten. Einen anderen Weg gibt es ja nicht. Der Westen hat sich klar entschieden, dass er im Ukraine-Konflikt nicht militärisch eingreifen wird. Es bleibt nur der Weg, über Verhandlungen zu schauen, welche bessere europäische Sicherheitsarchitektur wir herstellen können.


Bedeuten die Maximalforderungen Russlands nicht, dass man sich in Moskau längst für einen Krieg entschieden hat?

Das glaube ich nicht. Russland hat allerdings entschieden, sich nicht weiter viel Zeit zu nehmen, zu verhandeln. Man sagt: Wir stecken unsere roten Linien ab, erwarten zwar nicht, dass die USA diese akzeptieren, können uns dann aber offenlassen, wie wir vorgehen, wenn sie nicht akzeptiert werden. Wir stecken in einer komischen Situation. Es ist kein Schlafwandeln so wie vor dem Ersten Weltkrieg, als man in eine große Katastrophe taumelte. Dafür wissen wir mehr als damals. Aber es ist eine höchst gefährliche Situation. In keiner Zeit des Kalten Krieges habe ich die Gefahr eines territorialen Krieges in Europa so hoch angesehen, wie es jetzt an der russisch-ukrainischen Grenze der Fall ist. Gleichzeitig haben wir Europäer keinerlei Möglichkeit, darauf sicherheits- oder außenpolitisch eine Antwort zu geben. Auch deshalb, weil wir keine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik haben. Deshalb bin ich der Meinung, es wäre vernünftig, wieder eine Konferenz über eine europäische Sicherheitsarchitektur zu akzeptieren.

Welche Verhandlungslösung wäre denn denkbar?

Ich bin immer noch Anhänger der Charta von Paris von 1990. Alles, was sie enthält, wäre auch heute noch genau das, was wir in Europa brauchen. Sie ist eine Vereinbarung, die auch Russland umfasst, damals noch die Sowjetunion. Sie legt fest, dass alle Staaten künftig demokratisch und nach rechtsstaatlichen Prinzipien organisiert werden und dass es keine Veränderung von Territorien und den Machtverhältnissen geben wird, sondern eine friedliche Zusammenarbeit. Dafür wurde eine eigene Organisation eingerichtet – die OSZE. Heute sind wir weit davon entfernt, dass die OSZE wirklich ein Forum für Sicherheitspolitik in Europa wäre. Stattdessen stehen wir wieder dort, dass Russen und Amerikaner über die Köpfe der Europäer hinweg über uns verhandeln.


Für wie wahrscheinlich halten Sie eine Invasion in die Ukraine?

Ich kann mir nicht ganz vorstellen, dass Russland wirklich an eine Invasion der gesamten Ukraine denkt. Das ist bei einem so großen Flächenstaat wie der Ukraine, der in der Zwischenzeit doch ein Nationalbewusstsein entwickelt hat, der auch militärisch viel stärker und moderner geworden ist, als er es vor acht Jahren noch war, schwer möglich. Aus meiner Sicht ist es am wahrscheinlichsten, dass Russland sich entschließt, den Donbass, die Ostukraine, einfach zu einem Teil Russlands zu erklären. Auch das würde Sanktionen auslösen. Aber wie wir in der Vergangenheit gesehen haben, findet Russland dann immer Wege, mit diesen ohne große Nachteile umzugehen.



Wird das ein regional begrenzter Krieg bleiben?

Es deutet alles darauf hin, dass es das bleibt. Es hat niemand ein Interesse an der Wiederholung von großen Kriegshandlungen. Aber es ist schlimm genug, wenn es in der Ukraine zu solchen erweiterten Kriegshandlungen kommt. Hier können sehr viele Menschen sterben. Und man darf ja nicht vergessen, dass es auch jetzt schon einen ständigen Krieg im Osten des Landes gibt.

Würden europäische Länder wie Deutschland die Ukraine militärisch unterstützen?

Die Regierung in Berlin hat deutlich gemacht, dass sie die Ukrainer durch Waffenlieferungen und die Ausbildung der ukrainischen Armee unterstützen würden. Wenn man den Kreml kennt, muss man sagen: Es ist schon wichtig, „Hard Power“ zu besitzen und zu zeigen, also starkes militärisches Auftreten, um gegen Russland bestehen zu können. In gewisser Weise ist das, was jetzt hier bei uns in Europa passiert, ein Stellvertreter-Krieg auf einem relativ schlimmen hohen Niveau. Und da ist der Aggressor Russland und nicht der Westen, weil Russland versucht, das Prinzip der Teilung Europas und der Einfluss-Sphären durchzusetzen. Es liegt in unserem europäischen Interesse, dass es hier nicht zu einem weiteren Angriff auf die Ukraine kommt. Wenn wir sagen, dass wir Demokratie unterstützen, wenn wir sagen, dass wir in Europa selbst bestimmen wollen über unsere Sicherheitspolitik, dann müssen wir auch wissen, auf welcher Seite wir stehen. Der Kreml reagiert nur auf Stärke seines Vis-à-vis – nicht auf große Nachgiebigkeit. Hier darf man sich keinen Illusionen hingeben.

Russland sieht es als Aggression der Nato, dass sie sich in ehemalige Sowjetstaaten erweitert und dort Waffen stationiert hat.

Ja, das ist ein Argument aus russischer Sicht. Dort argumentiert man, dass diese Waffen der Nato in wenigen Minuten Moskau erreichen könnten. Aber man sagt nicht dazu, dass das auch umgekehrt gilt. In Kaliningrad stehen russische Iskander-Raketen, die in fünf Minuten Berlin erreichen können. Abschrecken und reden – das sind die beiden Themen, um die es heute geht.

Russland wirft dem Westen vor, ein Versprechen gegenüber Gorbatschow gebrochen zu haben, wonach sich die Nato nach der deutschen Wiedervereinigung nicht nach Osten ausdehnen würde. Doch es gibt keine schriftliche Vereinbarung darüber.

Die Situation war damals eine völlig andere. Als die Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung stattfanden, wusste niemand, wie sich der postsowjetische Raum entwickeln würde, der ja damals noch ein sowjetischer Raum war. Damals glaubten viele sogar noch an ein „Ende der Geschichte“ – dass es nur noch Demokratie und Kapitalismus geben würde –, auch Russland selbst hat das damals ja geglaubt. Es kam anders. Das heutige Russland handelt so, dass es autoritäre Regime in seiner Umgebung belohnt und demokratische, die es dann als „dekadent“ bezeichnet, bestraft. Das ist kein gutes Omen, wenn es darum geht, dass wir friedlich in Europa zusammenleben wollen. Daher glaube ich, dass das schlimme Wort „Abschreckung“ dennoch das richtige in der jetzigen Situation ist.