Früher verging kaum ein Tag, an dem Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner in Sonntags- und anderen Reden in ihrem Heimatbundesland nicht dauernd das "Miteinander" heraufbeschworen hat. Anders als die Bundespolitik, die traditionell von einem heillosen Gegeneinander geprägt sei, würde in Niederösterreich, lautete die Erzählung, eine andere politische Kultur herrschen, wo das Gemeinsame vor das Trennende gestellt werde, Streit und Hader der Vergangenheit angehörten, das große gemeinsame Ganze gelebt werde. Freilich: Wenn man mit absoluter Mehrheit regiert und sich die Partner aussuchen kann, ist die Verwirklichung eines so hehren Ansinnens keine große Kunst.

Der 29. Jänner ging als schwarzer Sonntag in die Geschichte der niederösterreichischen ÖVP ein. Mit einem Minus von 9,7 Prozent fiel Mikl-Leitner bei den Landtagswahlen nicht nur unter die magische 40-Prozent-Marke, sondern fuhr auch das schlechteste Ergebnis aller Zeiten ein. Die FPÖ legte um 9,4 Prozentpunkte zu, die SPÖ verlor weiter an Boden.

Erstmals musste die ÖVP aus einer Position der Schwäche heraus Koalitionsverhandlungen führen, es ist kein Geheimnis, dass Mikl-Leitner nicht aus tiefster innerer Überzeugung, sondern aus strategischen Überlegungen den Schulterschluss mit der FPÖ unter Udo Landbauer vollzogen hat. In der niederösterreichischen ÖVP wird beteuert, dass man im Frühjahr in unzähligen Gesprächen mit Experten, Funktionären, Wählern das desaströse Wahlergebnis aufgearbeitet habe. Der harte Wahlkampf und die ruppigen Koalitionsverhandlungen hatten Spuren hinterlassen. "Fürs Miteinander braucht es immer zwei", meint ein hoher Funktionär im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. "Die Basis hat uns gesagt: Lasst euch nicht alles gefallen."

Strategiewechsel

Bei der großen Funktionskonferenz Ende Juni gab Mikl-Leitner die neue Linie vor. Künftig werde die ÖVP "klare Kante" zeigen, sich für jene einsetzen, die "in der Mitte der Gesellschaft" stehen, die im öffentlichen Diskurs, der von Klimaklebern und Genderdebatten geprägt sei, die "schweigende Mehrheit" darstellen. "Das Miteinander war einmal, die klare Kante ist unser neuer Weg", formuliert der ÖVP-Spitzenfunktionär den Strategiewechsel. Oder wie es die ÖVP-Chefin in einem Gastkommentar Anfang Juli im "Standard" selbst formuliert hat: "Der Hausverstand scheint manchmal abgeschafft. Der gesunde Menschenverstand stört wie langweiliger Sand das gut geölte Empörungsgetriebe der politischen Ränder. Und die normal denkende Mehrheit der Mitte fühlt sich immer weniger gehört. ... Und genau darum ist es wichtig, auch Kante für die normal denkende Mitte unserer Gesellschaft zu zeigen. Für die schweigende Mehrheit. Für ihre berechtigten Anliegen, denen immer weniger Gehör geschenkt wird."

Dass die halbe Republik über "Normaldenkende" debattiert, entspringt allerdings nicht einer fein ausgeklügelten Strategie, die in St. Pölten ihren Ausgang genommen hat. Erstmals tauchte der Begriff beiläufig in einem Artikel des "Kurier" am 11. Juni auf, wo ein Funktionär damit zitiert wird. Wenige Tage später widmeten sich zwei Gastkommentatoren in der "Presse" und im "Standard" der problematischen Verwendung dieser Begrifflichkeit.

Erst daraufhin sah sich Mikl-Leitner veranlasst, erstmals öffentlich Stellung zu beziehen, wobei sie eine Lanze für die "Normaldenkenden" brach. Vizekanzler Werner Kogler brachte dies auf die Palme und befeuerte mit seinem Vorwurf, die Landeshauptfrau argumentiere "präfaschistisch", die Debatte. Der Kanzler stieg erst jetzt in die Diskussion ein.