Frau Steiner, Sie waren als Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg 14 Jahre lang für die Auslegung der Menschenrechtskonvention zuständig. Ist die EMRK reformbedürftig?
ELISABETH STEINER: Für mich ist die Menschenrechtskonvention ein unglaublich bahnbrechender Text. Sie ist in den 1950er Jahren entstanden, sie ist nach wie vor einer der größten Meilensteine der Menschheitsgeschichte. Warum ist denn Europa so ein begehrter, lebenswerter Ort? Nicht zuletzt wegen dieser Konvention. Auf die müssen wir aufpassen, die geht sonst sehr leicht verloren.

Also halten Sie sie nicht für reformbedürftig?
Ich halte sie nicht für reformbedürftig, ich bin ein großer Fan. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, und natürlich könnten Staaten jederzeit Reformen machen. Aber das wäre ein langwieriger Prozess – Sie müssen sich vorstellen, da müssen 46 Staaten an einen Tisch kommen und sich mit all ihren unterschiedlichen Rechts- und Wertevorstellungen auf eine Änderung einigen.

In der politischen Auseinandersetzung wird aktuell kritisiert, dass die EMRK so stark von Richtersprüchen geprägt ist; warum ist denn das so?
Das ist das Wesen einer Konvention: Es soll ein grober Rahmen abgesteckt werden. Bis vor kurzem 47 Mitgliedsstaaten müssen dabei auf einen Nenner gebracht werden – unterschiedlichste Meinungen, Kulturen, Rechtssysteme. Da kann natürlich nur ein grobes Schema herauskommen – und dann müssen die Richter arbeiten und daraus modellieren.

Ist das eine verlässliche Rechtsordnung, wenn das so grob ist?
Wenn man sich das ursprüngliche Regelwerk anschaut, das die fünf Gründerstaaten formuliert haben, um Gräueltaten wie im Zweiten Weltkrieg in Zukunft zu verhindern, dann ist das ein sehr klares System.

Politiker hierzulande meinen ja, dieser Gedanke von damals sei ja etwas ganz anderes als heute aus der EMRK gemacht werde.
Die EMRK ist über ihren historischen Kern hinausgewachsen – und wissen Sie was, ich bin darauf stolz, und wir alle sollten stolz darauf sein. Ich sage Ihnen ein Beispiel: Niemand konnte in den 1950er Jahren die Entwicklungen von heute, zum Beispiel die Frage nach sauberer Luft, sauberem Wasser usw. Deshalb gibt es im Wortlaut der EMRK keine Bestimmungen für Umweltschutz. Trotzdem hat das Gericht Menschen unter dem Titel der EMRK geschützt, die von Emissionen und Immissionen betroffen waren. Es wurde dazu das Instrument des „living instrument“ entwickelt: Man passt den Text den Erfordernissen und Bedingungen der Gegenwart an. Das hat man eben zum Beispiel beim Umweltschutz gemacht – unter dem Titel des Schutzes von Privat- und Familienleben, das in der EMRK geschützt ist.

Aber ist das nicht eine Anmaßung durch die Richterinnen und Richter? Das hatten die Staaten, die die Konvention geschlossen haben, ja nicht vorhersehen können.
Ich glaube nicht. Das hatten die Staaten ja nicht vorhersehen können, weil es diese Themen damals schlicht noch nicht gab. Außerdem kommt das Gericht nur subsidiär zum Zug – wenn es in den Staaten selbst keinen Rechtsschutz gibt. Mehr als 90 Prozent der Fälle weist der EGMR zurück.

Wie kommen denn die Richter in Straßburg zu ihren Entscheidungen?
Jeder Richter arbeitet dabei im Wesentlichen auf dieselbe Art: Man muss eine allgemeine, abstrakte Regel auf einen konkreten Einzelfall anwenden. Das ist genau dasselbe am Bezirksgericht Leoben wie in Straßburg am EGMR.

Nur hat man in Leoben eben wesentlich klarere Rechtssätze als die EMRK. Sind die Lücken, die man in Straßburg füllt, nicht eben viel weiter?
Der EGMR orientiert sich nicht nur an der Menschenrechtskonvention, sondern auch sehr stark an der hier bestehenden Rechtsprechung, und diskutieren die Richter in den Sitzungen die Fälle eingehend. Dies auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung. Ein guter Richter muss dabei nicht nur die Menschenrechtskonvention im Auge behalten, sondern auch das „große Ganze“ sehen. So entstehen gute Entscheidungen.

Ist es generell eine Tendenz, dass Staaten ihre Entscheidungen an übergeordnete Instanzen wie den EGMR delegieren?
Ich hoffe nicht. Die Staaten sollten eigentlich selbst auf die Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger achten.