Herr Präsident, im Frühling hat die Regierung große Teile Österreichs de facto unter Hausarrest mit ein wenig Freigang gestellt. Der Verfassungsgerichtshof hat später entschieden, dass der Kern dieses „Lockdowns“, das Betretungsverbot für öffentliche Flächen, gesetzeswidrig war. Trotzdem sind Tausende Österreicher deswegen bestraft worden. Ist das denn ausreichender Rechtsschutz?

Christoph Grabenwarter: Der Verfassungsgerichtshof wurde von einzelnen Antragstellern angerufen – üblicherweise bekommt nur jemand unmittelbar recht, der einen Rechtsakt bekämpft hat. Was der Verfassungsgerichtshof hier zusätzlich gemacht hat, ist, dass er angeordnet hat, dass die aufgehobene Verordnungsbestimmung nicht mehr angewendet werden darf. Damit haben wir unsere Möglichkeiten ausgeschöpft. Alles, was darüber hinausgeht, ist Sache des Gesetzgebers bzw. der Behörden.

Sollte es in solchen Fällen im Sinn des Vertrauens auf die Rechtsstaatlichkeit eine automatische Rückerstattung der Strafen geben?

Das ist eine rechtspolitische Frage. Unser Rechtsschutzsystem ist so ausgerichtet, dass der, der einen Rechtsnachteil erleidet, grundsätzlich sich selbst zur Wehr setzen muss. Was dann darüber hinaus passiert, ist Sache des Gesetzgebers oder der Verwaltung.

Es hat Monate gedauert vom Lockdown bis zu dem Erkenntnis, dass das so nicht rechtens war. Bräuchte es bei so massiven Grundrechtseingriffen nicht schnellere Verfahren?

Es geht, wie Sie richtig sagen, um massive Grundrechtseingriffe. Gleichzeitig ging es auch um den Schutz ganz gewichtiger Rechtsgüter, wie jenen des Lebens und der Gesundheit. Im Frühling haben Parlament und Regierung angesichts der Pandemie nicht viel Zeit gehabt, zu handeln – aber als Gericht, das deren Entscheidungen prüft, müssen wir uns Zeit nehmen, sehr gründlich vorzugehen.

Es ging darum, zwischen dem Schutz vor der Krankheit und Bewegungsfreiheit abzuwägen.

Ja. In dem Verfahren werden alle Seiten angehört. Üblicherweise hat die Regierung acht Wochen Zeit zur Stellungnahme. Wir haben im konkreten Fall auf fünf bis sechs Wochen verkürzt. Wir haben wirklich darauf geachtet, in möglichst kurzer Zeit eine Entscheidung zu treffen. Aber wenn das Verfahrensrecht den hohen Standard eines rechtsstaatlichen Verfahrens wahren will, braucht man eine gewisse Mindestzeit – viel schneller als in zweieinhalb bis drei Monaten kann man es nicht machen.

Die Folge war aber, dass monatelang eine als rechtswidrig erkannte Verordnung einfach so stehen blieb – mitsamt massiven Eingriffen in die Freiheit.

Das waren erhebliche Grundrechtseingriffe, ja. Aber eine Prüfung braucht Zeit, auch anderswo in der Rechtsordnung. Denken Sie an ein Strafverfahren, in dem jemand zu Unrecht verurteilt wurde, in dem das Berufungsverfahren eine Zeit lang dauert. Die Aufgabe der staatlichen Instanzen ist es, diesen Zeitraum möglichst kurz zu halten. Ein Zeitraum von zwei bis drei Monaten ist ein verhältnismäßig kurzer Zeitraum gemessen an dem, worum es eigentlich geht.

Es gibt beim VfGH doch auch kürzere Verfahren – etwa bei der Überprüfung von Wahlen. Wie kann man dort binnen kurzer Zeit die Verfahrensstandards gewährleisten und hier nicht?

Dort werden etwa den Organen des Parlaments oder den Behörden im Wahlverfahren kürzere Antwortfristen von ein bis zwei Wochen eingeräumt. Bei der Wahl des Bundespräsidenten oder jener zum Europäischen Parlament gibt es einen Sachzwang, weil der neue Präsident schnell angelobt bzw. das EU-Parlament bald nach der Wahl neu zusammentreten muss. Im aktuellen Fall war es so, dass gleichzeitig zahlreiche Gesetze und Verordnungen angefochten wurden, die Regierung musste bis Anfang Juni in 20 bis 30 Verfahren Stellungnahmen abgeben. Das müssen wir auch berücksichtigen, wenn wir Fristen setzen.

Der Bundeskanzler hat erklärt, juristisch sei es schwierig, richtig zu handeln – nicht einmal die Verfassungsrichter seien sich einig, wie bestimmte Sachen zu bewerten seien. Wie einig war der Gerichtshof bei der Bewertung der Corona-Maßnahmen?

Da kann ich eine allgemeine Antwort geben. Wir sind 14 Richterinnen und Richter, die alle sehr große Expertise haben. Jeder bringt diese auch ein und das formiert sich zu einer einheitlichen Entscheidung. Wir fassen über 90 Prozent der Entscheidungen einstimmig, nur bei einem geringeren Prozentsatz sind wir nicht einig. Wir entscheiden mit Mehrheit, das ist die Rechtslage, nichts anderes konnte der Bundeskanzler in dem Interview wiedergeben. Es entspricht unserer Tradition, dass wir die Abstimmungsergebnisse nicht veröffentlichen.

Die Opposition kritisiert die Legistik der vergangenen Monate, spricht von „Huschpfusch“ bei Corona-Gesetzen und -Verordnungen. Teilen Sie diese Meinung?

Ich möchte jetzt nicht über andere Regelungen spekulieren, die vielleicht noch bei uns angefochten werden – aber der Verfassungsgerichtshof hat in seinen Entscheidungen Mitte Juli schwarz auf weiß festgehalten, dass es ein verfassungsrechtliches Erfordernis ist, auch die Grundlagen für eine Verordnung hinreichend zu dokumentieren. Bei der Baumarkt-Lockerungsverordnung und der 400-Quadratmeter-Regelung war der Verordnungsakt in dieser Hinsicht mangelhaft.

Der VfGH räumt dem Staat einen weiten Spielraum zur Verhinderung von Pandemien und Krankheiten ein. Hat die Koalition die Möglichkeit, zum Beispiel wieder Betretungsverbote zu verhängen?

Der Verfassungsgerichtshof hat nicht gesagt, Spielraum von da bis dahin, sondern abstrakt formuliert. Man wird im Einzelfall diesen Spielraum auch in Zukunft danach bemessen, wie sehr der Verordnungsgeber etwa aus Daten der WHO erkennen kann, wo eine Bedrohung ist, oder wie sehr er voraussehen kann, wie sich ein Infektionsgeschehen entwickelt, damit die medizinische Infrastruktur nicht überlastet wird. Das sind abstrakte Größen, die auch in der Zukunft angepasst werden können, wenn sich etwa die Lage im Winterhalbjahr als Folge eines Zusammentreffens einer Grippewelle verändert.

Das heißt, ein gut begründetes allgemeines Ausgangsverbot wäre möglich?

In einem Nebensatz seiner Entscheidung stellt der Gerichtshof fest, es ist nicht ausgeschlossen, dass es ein Ausgangsverbot geben kann. Wichtig ist, dass erkennbar ist, dass der Gesetzgeber von sachlichen Überlegungen ausgeht, wenn er ein Ausgangsverbot verhängt. Wenn es differenziert ist, hat es immer stärker die Vermutung der Verhältnismäßigkeit, als wenn es ein allgemein flächendeckendes ist.

Anfang Oktober feiern wir hundert Jahre Beschluss des Kerns unserer Bundesverfassung. Wie hat sie sich bewährt?

In der Ersten Republik hat sie große Schwierigkeiten gehabt, 1933/34 hat das Ganze Schiffbruch erlitten und ist in die Katastrophe des Nationalsozialismus gemündet. Es gab 1945 den Wiederbeginn mit dem alten Verfassungstext. Nach 75 Jahren kann man sagen, die Verfassung hat sich hervorragend bewährt – gerade die letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass sie auch in Krisensituationen ein guter Rahmen ist, um unser Gemeinwesen durch Krisen zu bringen.

Was würden Sie heute gerne ändern, wenn Sie aussuchen könnten, was an der Verfassung umgeschrieben gehörte?

Im Regierungsprogramm wird das Vorhaben eines einheitlichen Grundrechtskataloges erwähnt. Es wäre schön, wenn sich dieses Vorhaben nach vielen erfolglosen Versuchen verwirklichen ließe.