Erfunden hat den Begriff ausgerechnet ein gebürtiger Syrer, der als Kind lernte, den Koran auswendig zu zitieren. Bassam Tibi, geboren 1944 in Damaskus, wanderte später nach Deutschland aus und gilt seitdem als kluger Kopf, wenn es um Fragen von Zuwanderung und arabischer Kultur geht. 1996 ortete er eine Krise der multikulturellen Gesellschaft und forderte eine „europäische Leitkultur“. Seitdem haben vor allem konservative und rechte Parteien den Begriff Leitkultur für sich entdeckt, was getrost als Fehler der Mitte- und Linksparteien gelten kann.

Womöglich hat deshalb Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger am Montag via „Heute“ gefordert, dass die Staatsbürgerschaft noch wesentlich klarer mit einem Bekenntnis zur Verfassung, den demokratischen Institutionen und den in der Verfassung verankerten Grundrechten verknüpft sein müsse – weshalb sie deren Verleihung mit einem „Treueschwur“ á la USA besiegeln möchte.

ÖVP will mit Experten und Bevölkerung reden

Womit die Brücke zur ÖVP und Bundeskanzler Karl Nehammer geschlagen ist, der nun seiner Integrationsministerin Susanne Raab mit der Ausarbeitung eines Konzepts zur österreichischen Leitkultur samt gesetzlicher Verankerung beauftragt hat. Wie das vonstattengehen soll, steht noch in den Sternen. Man wolle „mit Experten und Bevölkerung an einem Wertekatalog arbeiten“ und anschließend eine gesetzliche Umsetzung prüfen, heißt es aus dem Büro Raabs. Auch der Zeithorizont ist vage: Die Ministerin will sich „die Zeit nehmen, die es braucht, um das abzuarbeiten“.

Immerhin hat Nehammer in seiner Welser Rede Ende Jänner einige inhaltlichen – und erstaunlich liberalen – Pflöcke eingeschlagen: Nachdem er festgehalten hatte, dass er „als Bundeskanzler für eine Gesellschaft stehe, die sich weiterentwickelt und vor allem freier wird“, führte er aus: „Wenn wir ein Land der Vielfalt, des Respekts, der Wertschätzung und der Toleranz sein wollen, dann heißt es, dass es klare Spielregeln gibt und dann heißt es in meinem Verständnis, dass Integration Anpassung ist.“

Güngör: Verweis auf jüdisch-christliches Erbe allein greift zu kurz

Mit dieser Definition von Leitwerten dürfte sich wohl eine breite Mehrheit identifizieren können. In der schriftlichen Version des „Österreichplans“ der ÖVP steht unter dem Kapitel „Integration heißt Anpassung“, dass eine österreichische Leitkultur auch „nationales Kulturgut gesetzlich widerspiegeln soll“ und „keine Veränderung unserer Fest- und Feiertagskultur, damit unsere Bräuche auch in Zukunft begangen werden können“. Kaum anzunehmen, dass sich dies auf Halloween oder Blackfriday bezieht, mit dem der Start in den vorweihnachtlichen Kaufrausch begangen wird.

Aber die Sache mit der Leitkultur hat – siehe Tibi – natürlich einen ernsten Kern. „Eine vernünftige Debatte über dieses Thema würde gerade in stark von Migration geprägten Gesellschaften allen helfen, den alteingesessenen Einheimischen wie den neu Hinzugekommenen“, sagt dazu der Soziologe Kenan Güngör, der etwa für Oberösterreich an einem solchen Projekt mitgearbeitet hat. Dabei greife es aber zu kurz, sich allein auf die jüdisch-christlichen Wurzeln zu beziehen, wie dies Nehammer in Wels getan hat.

Für Güngör muss das Erbe der Aufklärung ebenso wie die Grundrechte als Leitmotive berücksichtigt werden. Und zwar nicht einseitig in Richtung Zuwanderer, sondern auch gegenüber den antidemokratischen Tendenzen in der Mehrheitsgesellschaft. Was würde er, Güngör, als typisch österreichische Grundwerte definieren? „Die auf Kompromisse ausgerichtete politische Kultur und die starke Friedensorientierung, was für die innere wie äußere Sicherheitspolitik gilt“, so Güngör.

Kaum Spielraum für gesetzliche Verankerung

So spannend – und womöglich sogar – sinnvoll eine Diskussion über das gemeinsame Wertefundament sein könnte, so schwierig dürfte sich eine gesetzliche Umsetzung erweisen. So gut wie alle rechtlich regelbaren Fragen – von der Gleichstellung der Frau bis zum Verbot von Symbolen extremistischer Gesinnungen – sind bereits verankert. Plänen für weiterreichende Vorgaben stehen die Grund- und Freiheitsrechte entgegen. Spielraum gebe es allenfalls noch bei Kriterien für die Vergabe der Staatsbürgerschaft – Kenntnisse von Geschichte, Wappnen und Hymnen –, „aber auch da hat Österreich bereits relativ strenge Regeln“, sagt der Verwaltungsrechtler Peter Bußjäger.

Zwar könne der Staat etwa bei der Verlängerung der Rot-Weiß-Rot-Karte künftig auf spezifisch österreichische Wertvorstellungen pochen, aber das wäre für Bußjäger „ein Schuss ins eigene Knie“, weil es sich dabei um dringend gebrauchte Fachkräfte handelt. Und auch beim Bleiberecht aus humanitären Gründen werde es allenfalls um wenige Einzelfälle gehen, da auch hier meistens ein Rechtsanspruch bestehe.