Es war ein ungewöhnlicher Start für eine Kanzlerschaft. Mitten in der Corona-Pandemie und nach mehreren Personalrochaden in der türkisen Regierungsmannschaft bezog Ende 2021 der frühere Innenminister Karl Nehammer sein neues Büro am Wiener Ballhausplatz. Erst galt es, dem Infektionsgeschehen Herr zu werden, kurz darauf musste sich die türkis-grüne Koalition mit einer Energie- und Teuerungskrise auseinandersetzen. Nach dem turbulenten Ende der Ära Kurz war Nehammer im ersten Jahr seiner Amtszeit vor allem damit beschäftigt, gemeinsam mit dem Regierungspartner Löcher zu stopfen. Bekannte Grundsätze der ÖVP wie der Wunsch nach einem ausgeglichenen Budget gerieten ins Hintertreffen. Für eigene inhaltliche Schwerpunkte blieb wenig Zeit. Das soll sich nun ändern. Am Freitag lädt die Volkspartei ins oberösterreichische Wels, wo der Kanzler seinen „Österreichplan“ vorstellen wird.

Zwar will die ÖVP die Veranstaltung nicht als Wahlkampfauftakt verstanden wissen, doch die Nationalratswahl rückt näher. Will Nehammer den Anspruch auf das Kanzleramt verteidigen, muss er den Österreicherinnen und Österreichern Gründe geben, ihn zu wählen. Es dürfte ein intensiver Wahlkampf werden: Gleich zwei U-Ausschüsse in den Monaten vor dem Urnengang werden wohl kaum für Harmonie zwischen den Parteien sorgen. In den Umfragen führt seit Monaten die FPÖ von Herbert Kickl, die gegen „die Eliten“ und „das System“ zu Felde ziehen will. Die SPÖ dürfte unter Andreas Babler wohl eine klassenkämpferische Rhetorik bemühen.

Ecken und Kanten für die „Partei der Mitte“

Die ÖVP gehe den „Weg der Mitte“, betont Generalsekretär Christian Stocker immer wieder. Doch das alleine wird nicht reichen – die Partei braucht ein ideologisches Profil und Nehammer einige Herzensthemen, mit denen er im Wahlkampf glaubwürdig hausieren gehen kann. Das ist kein einfaches Unterfangen. Ex-Kanzler Sebastian Kurz hatte in den Jahren vor seinem Abgang vieles in der Volkspartei auf seine Person zugeschnitten. Und während die eigene Kernwählerschaft eine ÖVP mit Ecken und Kanten sehen will, musste die Regierungsmannschaft um Nehammer in den vergangenen Jahren immer wieder zu Kompromissen mit einem ungleichen Koalitionspartner finden.

Eben diese Ecken und Kanten versucht die Volkspartei seit knapp einem Jahr in einem aufwendig inszenierten Verfahren zu schärfen. Es gehe darum, nach multiplen Krisen den Blick wieder in die Zukunft zu richten, betont die Partei. Nehammers Rede „Österreich 2030“ gab im März 2023 den Startschuss für einen von Bundespartei und politischer Akademie veranstalteten Selbstfindungsprozess; in „Zukunftsraum“-Dialogen galt es, gemeinsam mit Expertinnen und Experten sowie Interessensvertretungen Nehammers vorgegebene Schwerpunkte mit Inhalten zu füllen.

Countdown zählt Sekunden bis zur Kanzlerrede

Im Herbst tourte die Parteispitze schließlich durch die Bundesländer, um bei öffentlich zugänglichen Veranstaltungen die Erkenntnisse mit der Parteibasis und Sympathisanten abzustimmen. Nun folgt das Finale in Wels, auf der Website der Volkspartei zählt ein Countdown die Stunden, Minuten und Sekunden bis zum Beginn der Veranstaltung um 15.00 Uhr.

Deren Inhalte sind dabei in den Tagen davor schon häppchenweise an Medien weitergegeben worden, von der Steuerbefreiung von Überstunden bis zum Verbot des Gendersternchens in der Verwaltung. Im Kern geht es um altbekannte Grundsätze der Volkspartei: Sicherheit, Leistung, Familie. Vom großen Auftritt des Kanzlers erhofft sich die alte Partei dennoch eine neue Dynamik und den dringend benötigten Aufschwung in den Umfragen. Ob sich die medienwirksame Themenfindung gelohnt hat, wird die Volkspartei nach der Wahl im Herbst beantworten können.