Für den griechischen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis ist der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei hinfällig. "Lassen Sie uns nun ehrlich sein, im Moment ist die Vereinbarung tot", sagte Mitsotakis am Freitag dem US-Nachrichtensender CNN. Schuld sei Ankara, das entschieden habe, "komplett gegen die Vereinbarung zu verstoßen".

Die Türkei habe Flüchtlinge zu Lande und zu Wasser "aktiv" bei ihren Bemühungen unterstützt, nach Griechenland zu gelangen. Auch wenn in der Türkei fast vier Millionen Flüchtlinge lebten, werde sich Europa nicht von der Türkei erpressen lassen, bekräftigte Mitsotakis. "Wir haben jedes Recht, unsere souveränen Grenzen zu schützen." Die griechischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben seit der Öffnung der türkischen Grenze knapp 39.000 Menschen daran gehindert, die griechische Grenze zu passieren. Ankara spricht von drei Mal höheren Zahlen.

Strittiges Abkommen

Die Türkei habe laut Flüchtlingspakt die Verpflichtung, illegale Schleuser zurückzuhalten und die Menschen daran zu hindern, illegal nach Griechenland zu kommen. "Aber die Türkei macht genau das Gegenteil. Sie hat die Menschen systematisch bei ihren Bemühungen unterstützt, nach Griechenland zu kommen, sowohl an Land als auch auf See", so Mitsotakis.

Die EU und die Türkei hatten im März 2016 ein Flüchtlingsabkommen geschlossen, nachdem 2015 hunderttausende Flüchtlinge über die Balkan-Route nach Mitteleuropa gekommen waren. Ankara verpflichtete sich, alle auf den griechischen Ägäis-Inseln ankommenden Flüchtlinge zurückzunehmen und stärker gegen Schlepperbanden vorzugehen. Die EU versprach der Türkei Milliardenhilfen, eine beschleunigte Visa-Erleichterung und die Modernisierung der Zollunion.

Erpressungsversuche

Vergangene Woche hatte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan nach der Eskalation der Lage in der nordsyrischen Provinz Idlib die Grenzen zur EU geöffnet. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) sprachen von "Erpressungsversuchen", denen die EU nicht nachgeben dürfe. Wie eine Sprecherin der deutschen Bundesregierung am Freitagabend mitteilte, telefonierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Nachmittag mit Erdogan. Dabei sei es auch um die Lage an der türkisch-griechischen Grenze gegangen.

Zudem hätten die beiden sich über die Ergebnisse des Treffens zwischen Erdogan und Russlands Staatschef Wladimir Putin in Moskau ausgetauscht und darüber gesprochen, "wie den Menschen in Idlib schnellstmöglich geholfen werden kann", sagte die Sprecherin in Berlin. Putin, der den syrischen Machthaber Bashar al-Assad auch militärisch unterstützt, hatte sich mit Erdogan, der wiederum islamistische Milizen in Syrien im Kampf gegen Assad unterstützt, auf eine Feuerpause in Idlib geeinigt.

Termin in Brüssel

Erdogan reist am Montag nach Brüssel. Ein zentrales Thema der Reise auf Einladung von EU-Ratspräsident Charles Michel sei die aktuelle Krise an der griechisch-türkischen Grenze, berichtete die "Welt" am Samstag unter Berufung auf Diplomatenkreise in Brüssel. Die türkische Präsidentschaft erklärte, dass Erdogan nach Belgien reise, nannte aber keine Details. Der Sprecher von EU-Ratspräsident Charles Michel bestätigte das Treffen auf Anfrage Samstag früh zunächst nicht.

Gegenstand der Beratungen sind laut "Welt" auch eine Modernisierung der Zollunion zwischen Ankara und Brüssel, Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger, neue Flüchtlingshilfen für die Türkei sowie eine finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau vor allem im Norden Syriens sein. Gleichzeitig soll über eine reibungslosere Rücknahme von illegal eingereisten Migranten aus Griechenland durch die Türkei gesprochen werden sowie über Grenzkontrollen durch die türkischen Behörden und über gemeinsame Anstrengungen im Kampf gegen islamistische Terroristen in Syrien.