Die ukrainischen Truppen sind nach Analysen westlicher Experten im teilweise befreiten Gebiet Cherson nun auch auf die bisher von russischen Besatzern kontrollierte Uferseite des Flusses Dnipro vorgestoßen. Aus veröffentlichten Geodaten und Texten russischer Militärblogger gehe hervor, dass die ukrainischen Streitkräfte Positionen am linken oder Ostufer im Gebiet Cherson eingenommen hätten, teilte das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) mit.

Unklar seien aber das Ausmaß und die Ziele dieser erstmals so registrierten Erfolge der Ukrainer. Bei einer ukrainischen Offensive im Herbst hatten sich die russischen Militärs aus der Gebietshauptstadt Cherson und Teilen der Region komplett vom Westufer des Dnipro zurückgezogen. Ziel war es gewesen, einen Vorstoß der ukrainischen Truppen auf die andere Uferseite zu verhindern.

Russlands Statthalter in der Region Cherson dementierte indes die Angaben der US-Denkfabrik, wonach ukrainische Truppen am Ostufer des Flusses Dnipro Stellungen bezogen haben. Dem sei nicht so, schreibt Wladimir Saldo auf Telegram. "Unser Militär kontrolliert das Territorium vollständig." Es könne vorkommen, dass feindliche Sabotagegruppen anlanden und Selfies aufnähmen, "bevor sie zerstört oder von unseren Kämpfern ins Wasser geschubst werden". Ein Sprecher des südukrainischen Militärkommandos wollte die Angaben des Instituts weder bestätigen noch dementieren.

Kontrollverlust der russischen Einheiten in der Region?

Die neue Entwicklung würde auf einen Kontrollverlust der russischen Einheiten in der Region hinweisen. Demnach könnten sich die russischen Besatzer nur noch auf Städte konzentrieren. Die ISW-Experten sehen unter Berufung auf russische Blogger, die das eigene Militär auch immer wieder kritisieren, bereits solide Versorgungslinien zu den Positionen der ukrainischen Streitkräfte.

Die Ukraine hatte stets erklärt, alle von russischen Truppen besetzten Gebiete zu befreien. Vom Gebiet Cherson aus wäre bei einer Eroberung der Region der Weg für die ukrainische Armee frei zu der von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Der Generalstab in Kiew meldete am Sonntag Artillerieangriffe aus der ukrainisch kontrollierten Region Cherson. Dort seien 35 Ortschaften von russischer Artillerie beschossen worden.

Die ISW-Experten gehen zudem davon aus, dass das russische Militär nicht durchdringt mit Empfehlungen zu Kremlchef Wladimir Putin, sich auf eine Verteidigung von Stellungen zu konzentrieren. Statt sich vor dem Hintergrund der geplanten ukrainischen Großoffensive auf das Sammeln von Kräften zu konzentrieren, gebe es immer wieder verlustreiche Angriffe, die kaum Gebietsgewinne brächten, hieß es.

"Dass weiter auf russischen Offensiven im Osten der Ukraine bestanden wird, lässt darauf schließen, dass die Gruppe, die den Krieg entlang der aktuellen Frontlinien einfrieren will, Putin nicht vollends von ihrer Sichtweise überzeugt hat", hieß es in der Analyse.

Die ISW-Experten vermuten, dass das Verteidigungsministerium in Moskau sich zuletzt auch deshalb immer wieder offen mit dem Chef der russischen Privatarmee Wagner arrangierte, um über ihn zu Putin vorzudringen. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin gilt als enger Vertrauter Putins - und als Mann offener Worte.

Russland meldet weitere Bodengewinne in Bachmut

Unterdessen kommen die russischen Einheiten nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau bei ihrem Versuch voran, die ostukrainische Stadt Bachmut vollständig zu erobern. Sie nahmen demnach zwei weitere Straßenblöcke im Westen der seit Monaten schwer umkämpften Stadt ein. Luftlandeeinheiten würden zudem im Norden und Süden Verstärkung leisten. Die Ukraine meldete indes, insgesamt seien dort rund 45 Angriffe unter Verlusten für den Gegner abgeschlagen worden. Auch aus Marjinka wurden mehrere russische Angriffe gemeldet.

Russische Truppen bereiten sich nach Meinung ukrainischer Militärs auch erneut zum Sturm auf die Stadt Wuhledar vor. Der Ort im Südwesten der Oblast Donezk sei in den vergangenen Tagen wiederholt unter schweren Beschuss geraten, sagte am Sonntag der regionale Militärsprecher Olexij Dmitraschkowski im ukrainischen Staatsfernsehen. Allein am Samstag sei die Stadt sechsmal von der russischen Luftwaffe angegriffen worden.

"Der Feind verfolgt eine Taktik der verbrannten Erde", sagte Dmitraschkowski. "Damit soll sichergestellt werden, dass unsere Verteidiger keine Positionen finden, um sich zu verteidigen." Eine mit Panzern verstärkte russische Eliteeinheit mit Marine-Infanteristen erlitt erhebliche Verluste, als sie in einer dreiwöchigen Offensive im Februar versuchte, das Gebiet um Wuhledar einzunehmen.