In Tunesien ist die Lage nach der Entmachtung von Ministerpräsident Hichem Mechichi durch Präsident Kais Saied gespannt. Das Parlament in der Hauptstadt Tunis war am Montag von Sicherheitskräften umstellt. Aufgebrachte Demonstranten zogen dorthin und forderten Zugang. Einige versuchten, über das Tor zu klettern. Parlamentspräsident Rached Ghannouchi hielt einen Sitzstreik vor dem Gebäude ab.

Inmitten der politischen Krise in Tunesien hat die Polizei das Hauptstadtbüro vom Fernsehsender Al-Jazeera gestürmt. Mindestens zehn bewaffnete Beamte hätten das Büro in Tunis betreten und alle Journalisten aufgefordert, das Gebäude zu verlassen, berichtete der Sender am Montag.

Die Polizisten hätten Telefone und anderes Gerät beschlagnahmt und erklärt, auf Anweisung der Justiz zu handeln. Durchsuchungsbefehle hätten sie nicht gehabt. Ihren persönlichen Besitz durften die Mitarbeiter nicht mitnehmen.

Tunesiens Präsident Kais Saiedhatte Ministerpräsident Hichem Mechichi in einem überraschenden Schritt seines Amtes enthoben und die Arbeit des Parlaments vorerst für 30 Tage ausgesetzt. Er selbst werde die Regierungsgeschäfte gemeinsam mit einem neuen Ministerpräsidenten übernehmen, kündigte Saied am Sonntagabend nach einem Krisentreffen mit Vertretern von Militär und Sicherheitsbehörden an. Zudem werde die Immunität sämtlicher Abgeordneter aufgehoben.

Gefährliche Situation

"Wir erleben einen der empfindlichsten Momente in der tunesischen Geschichte. Es sind in der Tat die gefährlichsten Minuten", sagte Saied in einer Video-Ansprache. Dabei war er am Kopfende eines Konferenztischs zu sehen, gemeinsam mit einigen Militärs und Beamten und neben ihm die tunesische Flagge. "Wir arbeiten innerhalb des rechtlichen Rahmens", versicherte Saied.

Die islamisch-konservative Ennahda, die größte Partei im Land, sprach von einem "Staatsstreich". Die Tunesier würden die Erfolge ihrer "Revolution" aber verteidigen, teilte Ennahda-Chef Rached Ghannouchi auf Facebook mit - offenbar in Bezug auf die arabischen Aufstände von 2011. Es handle sich um einen "Putsch" gegen die Verfassung. Am Abend gab es Berichte über Angriffe auf mehrere Büros der Partei. In Tunis verhinderte die Polizei einen Angriff auf deren Parteizentrale.

"Volk betrogen"

Der Präsident drohte für den Fall gewaltsamem Widerstands mit einem Einsatz der Armee. "Viele Menschen wurden mit Heuchelei, Verrat und Raub um die Rechte des Volkes betrogen", sagte Saied. Er warne davor, zu Waffen zu greifen. "Wer eine Kugel abfeuert, dem werden die Streitkräfte mit Kugeln antworten." Er kündigte an, die Regierungsgeschäfte an der Seite eines neuen Ministerpräsidenten zu übernehmen.

Feierlichkeiten und Proteste

Unterstützer Saieds zogen am Abend jubelnd auf die Straße. Im Zentrum von Tunis feierten Hunderte, die Leuchtfackeln und Feuerwerkskörper zündeten, Fahnen schwenkten und die Nationalhymne anstimmten. In mehreren Teilen der Hauptstadt waren laut Augenzeugen Soldaten der Armee im Einsatz, um öffentliche Einrichtungen zu schützen. Über dem Parlament in Tunis kreisten in der Nacht Militärhubschrauber.

Die Ankündigungen folgen auf regierungskritische Proteste in mehreren Teilen des Landes wegen stark steigender Corona-Fallzahlen und einer anhaltenden Wirtschaftskrise. Die Demonstranten forderten dabei den Rücktritt der Regierung und die Auflösung des Parlaments. Tunesien erlebt derzeit einen starken Anstieg der Corona-Fallzahlen. Bisher wurden 555.000 Corona-Infektionen und etwa 18.000 Todesfälle gemeldet. Die Impfungen kommen nur langsam voran.

Zwischen dem früheren Juraprofessor Saied, seit Oktober 2019 im Amt, sowie Mechichi und dem Parlament tobt seit Monaten ein Machtkampf. Saied erklärte, die von ihm angekündigten Schritte bewegten sich im rechtlichen Rahmen der Verfassung. Artikel 80 räumt ihm das Recht ein, bei drohender "schwerer Gefahr für Einheit, Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes" außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen.

Viele Tunesier haben das Vertrauen in die politische Elite verloren und dürften in Saieds Ankündigungen ein längst überfälliges Handeln erkennen. Kritiker fürchten dagegen eine Rückkehr zur autoritären Herrschaft wie unter Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali, der in Tunesien mehr als 20 Jahre an der Macht war und der 2011 nach Massenprotesten gestürzt wurde.

Tunesien hat seit den arabischen Aufständen als einziges Land der Region den Übergang in die Demokratie geschafft. Es kämpft aber weiterhin mit einer Wirtschaftskrise, hoher Arbeitslosigkeit und weit verbreiteter Korruption.