Auf den ersten Blick könnte man sich freuen über den neuen Sipri-Jahresbericht: Die Forscher des renommierten Stockholmer Friedensforschungsinstituts, die jedes Jahr den Stand des atomaren Rüstens auf unserem Planeten analysieren, stellen fest, dass die Gesamtzahl der atomaren Sprengköpfe erneut zurückgegangen ist: 13.081 waren es im Vergleich zu 13.400 noch vor einem Jahr.

Weniger schön ist das Bild jedoch im Detail: Denn im gleichen Zeitraum wurde mehr Atomwaffen in Einsatzbereitschaft gesetzt. Die Zahl der einsatzbereiten nuklearen Sprengköpfe stieg demnach von 3720 im vergangenen Jahr auf 3825. Darunter verstehen Experten jene Atomsprengköpfe, die bereits auf Raketen montiert sind oder sich auf aktiven Stützpunkten befinden.

2000 Sprengköpfe in höchste Alarmbereitschaft versetzt

Etwa 2000 davon wurden laut dem Sipri-Bericht in höchste Alarmbereitschaft versetzt, die meisten davon in Russland und den USA. Insgesamt lässt sich eine Modernisierung der Atomwaffen-Arsenale feststellen: Washington und Moskau reduzierten ihre Atomwaffenbestände, indem sie ausgemusterte Sprengköpfe abbauten. Zugleich hatten beide Supermächte Anfang 2021 rund 50 nukleare Sprengköpfe mehr im Einsatz als ein Jahr zuvor, erklärte SIPRI. Eine Trendumkehr, die auf ein neues Wettrüsten deutet. Die Berechnungen der Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican), wonach  die Atommächte die Ausgaben für ihre Arsenale im Vorjahr trotz der Corona-Pandemie um 1,4 Milliarden Dollar (1,2 Milliarden Euro) auf 72 Milliarden Dollar erhöht haben, stützen diesen Schluss.

Russland stockte sein militärisches Atomwaffenarsenal nach Erkenntnissen der Forscher in Stockholm insgesamt um etwa 180 Sprengköpfe auf, vor allem aufgrund der Stationierung von weiteren landgestützten Interkontinentalraketen (ICBMs) und seegestützten ballistischen Raketen mit mehreren Sprengköpfen.

Was man den Regierungen in Moskau und Washington zugute halten muss: Beide Seiten blieben innerhalb der im New-Start-Abrüstungsvertrag festgelegten Grenzen für ihre Atomstreitkräfte, der erst im Februar verlängert worden war. Das Abkommen sieht keine Begrenzung der Gesamtbestände an atomaren Sprengköpfen vor. Hans M. Kristensen, Experte bei SIPRI für nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, sieht "ein besorgniserregendes Zeichen dafür, dass der rückläufige Trend, der die globalen Atomwaffen-Arsenale seit dem Ende des Kalten Krieges charakterisiert hat, zum Stillstand gekommen ist". 

90 Prozent

Neun Staaten gelten derzeit als Atommächte, die über Kernwaffen verfügen und zusätzlich auch die Trägersysteme haben, um diese einzusetzen. Die beiden größten sind Russland (6255) und die USA (5550), die noch stark vom Wettrüsten des Kalten Krieges geprägt sind  und zusammengenommen über 90 Prozent der weltweiten Atomwaffen verfügen. "Sowohl Russland als auch die USA scheinen die Bedeutung, die sie Atomwaffen in ihren nationalen Sicherheitsstrategien beimessen, zu erhöhen", sagte Kristensen.

Als weitere Atommächte gelten Großbritannien, Frankreich, Israel, China, Pakistan, Indien und Nordkorea. Mit dem Iran werden derzeit in Wien erneut Verhandlungen geführt, um zu verhindern, dass Teheran zu den Atommächten aufschließt.

Und da zeigt sich: Wenn es ums Ausbauen und Modernisieren geht, versuchen alle Atommächte, ihre Waffensystem zu entwickeln und ihre Arsenale auszubauen. Das erstarkte China, das sich mit den USA einen harten Systemwettbewerb um Platz eins der Supermächte liefert, befindet sich laut Sipri mitten in einer umfassenden Modernisierung und Erweiterung seines Atomwaffenarsenals. Wichtiger Unterschied: Im Gegensatz zu den anderen vier UN-Vetomächten zählt Sipri China aber nicht zu den Ländern mit einsatzbereiten Sprengköpfen.

Großbritannien vollzog eine Kehrtwende und stoppte seine bisherige Politik der Reduzierung des Atomwaffenarsenals: London erhöhte die geplante Obergrenze für Atomwaffen von 180 auf 260. Indien und Pakistan sind den Erkenntnissen der Experten zufolge im Begriff, ihre Atomwaffenarsenale zu erweitern. Und auch Nordkorea versucht, sein militärisches Atomprogramm als zentrales Element seiner nationalen Sicherheitsstrategie weiter auszubauen.