Es war so schön geplant. Die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright wird am Wochenende auf dem Parteitag zu den Grünen sprechen und Ex-Siemens-Chef Joe Kaiser. Früher hätte das laute Proteste gegeben gegen die Weltpolizei Amerika und das deutsche Finanzkapital.

Jetzt wollten sich die Grünen bei der Verabschiedung ihres Wahlprogramms mit zwei prominenten Rednern schmücken, um zu demonstrieren, welchen Weg sie zurückgelegt haben in den vergangenen vier Jahrzehnten. Aber statt Lob und Promi-Glanz gab es eine kräftige Ansage: „Kanzlerkandidatin Baerbock. Das war’s“,betitelte die liberale Publizistin Bettina Gaus ihre „Spiegel“-Kolumne.


Die Grünen haben es nicht einfach. Vor gut sechs Wochen riefen die Grünen Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin für die Wahl im September aus. Es folgte eine grüne Welle. Gefühlt war die Partei schon auf dem Weg ins Kanzleramt. Doch auf die Euphorie folgte eine grüne Delle. Doch der Niedergang ist weitgehend selbstverschuldet – auch von Baerbock.

Serie von Pannen


Die Serie der Pannen fing an mit einem Versehen. Baerbock, auch Ko-Chefin der Grünen, hatte den Weihnachtsbonus der Partei nicht wie vorgeschrieben beim Bundestagspräsidium als Nebeneinkünfte eingeteilt. Eigentlich eine Lappalie, aber das war nur der Anfang. Journalisten der „FAZ“ und der „Welt“ machten sich an den Lebenslauf der Kandidatin. Erst musste Baerbock eingestehen, nicht Alumni des German Marshall Fund (GMF) zu sein, sondern nur Teilnehmerin eines Programms des renommierten transatlantischen Forschungsinstituts. Dann wurde aus einer Mitgliedschaft im Flüchtlingswerk UNHCR nur ein Spendenbeitrag. Schließlich gab es Ungereimtheiten, wann Baerbock in ihrer Zeit in Brüssel zur Büroleiterin einer EU-Abgeordneten aufstieg. „Wenig professionell“, urteilte selbst die linksalternative „Taz“. Damit war noch nicht Schluss. Ein Praktikum musste nachgebessert werden, die angegebene Anwaltsfirma existierte nicht unter dem Namen. Alles kleine Versehen, in der Summe aber peinlich.


Die Erklärung für das Phänomen ist gesellschaftlich einfach. Wo Ko-Chef Robert Habeck, Jahrgang 1969, ohne Reue angibt, zwischen Abitur und Studium Straßentheater in Europas Süden gemacht zu haben, dürfen bei Baerbock, Jahrgang 1980, keine Zweifel am linearen Aufstieg aufkommen. Die Generation Erasmus hat keinen Lebenslauf, sondern einen CV. Das Prinzip der Performanz und Selbstoptimierung duldet keine Lücken. Auch bei den Grünen. Vorbei die Zeiten in denen ehemalige Taxifahrer wie Joschka Fischer zum Außenminister aufsteigen konnten. Die Grünen spüren plötzlich Gegenwind. Baerbock muss mit ihrer Glaubwürdigkeit kämpfen.

Der Parteitag soll die Wende bringen

Am Freitag spricht Habeck, am Sonntag Baerbock. Und dazwischen Albright, Kaeser und die grüne Lichtgestalt Winfried Kretschmann. Der Mann regiert, mitten im Autoland Schwaben. Und die Welt dort geht nicht unter. Doch die Botschaft des Aufschwungs droht unterzugehen. Mehr als dreitausend Änderungsanträge für das Wahlkampfprogramm sind bei der Parteitagsleitung eingegangen. Beginnend mit dem ersten Satz des Programms. Aus dem Titel „Deutschland. Alles ist drin“, soll der Ländername getilgt werden. Die Grünen, die unter Baerbock und Habeck den lähmenden Flügelstreit beendet hatten, sind zurück in überwunden geglaubten Debatten der Vergangenheit. Die grüne Entropie überrascht. Nach der gescheiterten Regierungsbeteiligung vor vier Jahren hatte sich die Partei auf den Weg gemacht. Kurz vor dem Ziel scheint die Disziplin zu schwinden.


Auch über den Spritpreis wird wieder gestritten. Baerbock hatte übersetzt, was ein Preis auf das Klimagas Kohlendioxid an der Zapfsäule bedeutet: 16 Cent mehr pro Liter. Ein Sturm der Entrüstung brach los. Es dauerte Tage, bis klar war, dass die Spritkosten auch mit den bereits besiegelten Maßnahmen von Union und SPD steigen – nur zwei Jahre später.


Das zeigt das Dilemma: Die Menschen sind müde von den Veränderungen durch die Pandemie. Manche überfordert das Tempo des Wandels, den die Grünen wollen. Schon fällt die Partei – und auch Baerbock persönlich – in Umfragen zurück.


Am Freitag machte die Wirtschaft mobil. Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, ein Klub mit der Agenda der Schröder-Jahre, schaltete ganzseitige Anzeigen in Zeitungen. Darauf zu sehen: Baerbock als Moses und der Titel: „Deutschland braucht keine neue Staatsreligion.“ Die Anzeige war theologisch betrachtet immerhin innovativ: Gott ist eine Frau. Die Frage ist nur, ist Deutschland reif für einen Dekalog? Baerbock wird am Montag ihr neues Buch vorstellen: „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern.“ Die Frau setzt auf Tempo. Mitunter wirkt es, die Kandidatin kann damit selbst nicht Schritt halten.