Joe Biden kommt optimistischer, ruhiger im Ton und überlegter daher als Donald Trump – und doch: Die Kernbotschaft seiner ersten Rede vor dem Kongress hätte auch von seinem Vorgänger stammen können: "Wir müssen unseren Leuten etwas anbieten", sagte der neue US-Präsident.

Um Bidens Rede einzuordnen, muss man sich erinnern, unter welchen Umständen er im Jänner sein Amt übernahm: Trump-Anhänger hatten das Kapitol, das symbolische Herz der US-Demokratie gestürmt, ohne dass die Sicherheitskräfte sie aufhalten konnten. Zugleich brannte sich die Pandemie durchs Land, mit 500.000 Todesopfern in nur einem Jahr. Dazu horrende Arbeitslosenzahlen, Wirtschaftskrise, scheinbar unaufhaltsame Polizeigewalt, der sich nicht-weiße Bürger hilflos ausgeliefert fühlen. „Wir müssen beweisen, dass die Demokratie noch funktioniert, dass unsere Regierung noch funktioniert und dass wir unseren Leuten etwas anbieten können“, sagte Biden jetzt. Was fast schon fad klingt, ist dennoch die Zuversicht, die die USA jetzt so sehr brauchen.

Bidens Vorgänger Donald Trump hatte mit der Kritik an den Lebensumständen des "kleinen Mannes" tausenden Amerikanern aus der Seele gesprochen – oft auch geschrien. Die "Abgehängten" und die "Globalisierungsverlierer" sind in den letzten Jahren in Scharen zu den Populisten übergelaufen, in den USA wie in Europa. Trump hatte deren Sorgen zwar angesprochen; lösen konnte er sie aber nicht.

Joe Biden scheint einen der Gründe für Trumps Erfolg verstanden zu haben. Er ist mit dem Anspruch angetreten, das Land zu versöhnen – und stellt sich jetzt, das zeigt seine Rede, mit ganz konkreten Plänen und Taten auf die Seite genau jener Abgehängten.

Gigantische Investitionen

Biden plant die größte Erneuerung der US-Wirtschaft seit 1945. Er will gigantische Investitionen in Amerikas Wohlfahrtsstaat auf Schiene bringen, die Infrastruktur und das Bildungssystem auf Vordermann bringen. Es sind ehrgeizige und auch sehr, sehr teure Pläne. Finanziert werden sollen sie über neue Schulden und höhere Steuern für Wohlhabende und Unternehmen.

Mag sein, dass Biden, wie manche meinen, damit ein neuer Roosevelt werden wird, der die USA in den Dreißigerjahren aus der "Großen Depression" geführt hat. Aber worauf Biden wirklich abzielt, ist klar: Der Demokrat legt ein Programm vor, das die Abgehängten – und Trump-Wähler – wieder mit ins Boot holt. Statt Populismus stellt er ihnen ganz konkrete Verbesserungen in Aussicht: Jobs, einen höheren Mindestlohn, Kindergeld. Unterstützung, die die Kaufkraft stärkt und auch der Wirtschaft zugutekommen soll. Zu Recht nennt die „New York Times“ Bidens Pläne einen „Umschwung in der Art, wie die Nation für ihre Leute sorgt“.

Ab jetzt muss Biden liefern

Die Rede war der einfache Part. Ab jetzt muss Biden liefern. Bei Corona hat "Sleepy Joe", wie Trump den 78-Jährigen nannte, gezeigt, dass er das auch kann. Mehr als doppelt so viele Impfdosen wie ursprünglich geplant wurden bereits verimpft. In den ersten 100 Tagen hat sein Arbeitseifer und Tempo auch viele seiner Gegner überrascht.

Doch jetzt muss Biden seine Pläne zum Umbau Amerikas durch den gespaltenen Kongress bringen. Die Republikaner werfen ihm bereits "übelsten Sozialismus" vor; viele halten seine Pläne für überzogen und warnen vor neuer Inflation. Biden wird Kompromisse eingehen müssen.

Eine Chance

Doch dass seine Strategie, den Populisten mit konkreten Plänen das Wasser abzugraben, aufgehen könnte, zeigen die Umfragen. Laut CNN sind 53 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner mit der Arbeit des Präsidenten zufrieden. Es scheinen auch einige aus dem Trump-Lager bereit, ihm eine Chance geben zu wollen.