Joe Biden begann seine Jubiläumswoche mit einem Knall. Am Samstag veröffentlichte das Weiße Haus eine Proklamation, in der das amerikanische Staatsoberhaupt erstmals das Massaker von Truppen des Osmanischen Reichs an den Armeniern im Jahr 1915 als Völkermord bezeichnete. Es war ein Schritt, vor dem Bidens Vorgänger noch zurückgeschreckt waren. Die Anerkennung des Genozids dürfte schließlich die Beziehungen zur Türkei weiter verkomplizieren – einem wichtigen US-Verbündeten im Nahen Osten.


Dass der US-Präsident dennoch nicht vor dem Schritt zurückschreckte, passt jedoch ins Bild. Biden, am Donnerstag seit 100 Tagen an der Macht, hat in seiner noch kurzen Amtszeit bereits zahlreiche Schritte unternommen, um die US-Politik von den Überresten von vier Jahren Trumpismus zu befreien. Und dazu gehört auch, eine gewisse Wertebindung in der amerikanischen Außenpolitik zumindest zu signalisieren.

Er will keine Zeit verlieren

Biden hat lange auf seine Chance gewartet, die mächtigste Nation der Welt zu führen. Das Weiße Haus eroberte er erst im dritten Anlauf – Kandidaturen für die Wahlen 1988 und 2008 scheiterten früh. Nun, da er als ältester Präsident der US-Geschichte endlich regiert, will der 78-Jährige keine Zeit verlieren. Kaum vereidigt machte er sich daran, Trumps politisches Erbe abzuwickeln. In den ersten Monaten seiner Amtszeit zog er mehr als 60 Verordnungen zurück. Unter Trump hatte im gleichen Zeitraum gerade einmal zwölf Executive Order.
Doch der neue Alte beschränkt sich nicht aufs Zurückdrehen. Auch in der Zahl der neuen Verordnungen übersteigt er seine Vorgänger deutlich. Lediglich der demokratische Säulenheilige Franklin D. Roosevelt erließ in seinen ersten 100 Tagen mehr Dekrete als Biden – ein Vergleich, den der ehemalige Vize-Präsident vermutlich gern hört.


Roosevelt kam ins Amt, als die USA fest im Griff der Großen Depression waren. Der neue Präsident machte sich daran, das Land zu reformieren und legte den Grundstein für das moderne amerikanische Sozialsystem. Biden sieht sich in einer ähnlichen Situation. Covid-19 hat das Land erschüttert. Das Virus kostete bislang fast 600.000 Amerikaner das Leben und löste den heftigsten Wirtschaftsabsturz seit der Demobilisierung nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Also peitschte Biden ein 1,9 Billionen Dollar schweres Rettungspaket durch den Kongress und baute in Windeseile ein von der Bundesregierung gesteuertes Impfprogramm auf, das die Bundesstaaten unterstützte.


Mit Erfolg. Das selbstgesteckte Ziel von 200 Millionen Impfungen in 100 Tagen hat die Administration bereits erreicht. Die Zahl der Neuinfektionen beträgt nur noch ein Drittel von dem was es bei Bidens Amtsantritt war.

Krise wird als Chance für Reformen


Wie Roosevelt nutzt Biden die Krise jedoch auch, um das Land zu reformieren. Schon ein erstes Hilfspaket beinhaltete neben Direktzahlungen an die Bevölkerung einen weitreichenden Ausbau von Sozialprogrammen. Sein geplantes mehr als zwei Billionen Dollar schweres Infrastrukturpaket beinhaltet neben Geld für Straßen und Brücken auch Mittel für die Transformation des amerikanischen Energiesektors. Weitere ambitionierte Pläne sollen folgen. Damit legt ausgerechnet der vermeintliche Zentrist Biden das progressivste Programm eines US-Präsidenten seit Jahrzehnten vor. Und trotz der tiefen Spaltung der amerikanischen Bevölkerung ist die Mehrheit auf seiner Seite. Seine Pläne sind beliebt. Und Biden selbst kann sich in Zustimmungswerten sonnen, die sein Vorgänger nie erreichte.

Erwartbares in der Außenpolitik


Das ist eine überraschende Entwicklung – zumal nach dem knappen Wahlergebnis und dem unversöhnlichen Ende der Ära Trump. In der Außenpolitik setzt Biden dafür umso mehr auf Erwartbares. Dass der überzeugte Transatlantiker die Nähe zu den Europäern suchen würde, ist keine Überraschung. Seine erste Auslandsreise wird ihn im Juni zum G7-Gipfel ins Vereinigte Königreich führen. Im Anschluss steht ein Abstecher nach Brüssel auf dem Programm. Im Weißen Haus besuchen durfte ihn bislang coronabedingt nur der Ministerpräsident von Japan – ebenfalls ein langjähriger Verbündeter. Biden will Amerikas Allianzen wieder aufpolieren und Verlässlichkeit zurück in die internationalen Beziehungen bringen. Dazu passt auch der angekündigte Abzug aus Afghanistan, auf den er schon vor zehn Jahren als Vize-Präsident hinarbeitete.


Ganz mit der Politik seines Vorgängers bricht Biden dennoch nicht. Vor allem in der globalen Auseinandersetzung mit China gibt er sich kein bisschen Konzilianter als Trump. Die Strafzölle, mit denen sich beide Seiten während des Handelskriegs zwischen Washington und Beijing überzogen, sind weiterhin in Kraft, der Ton weiterhin rau. Etwas anderes kann sich Biden auch nicht erlauben. Der innenpolitische Druck, gegenüber China nicht nachzugeben, ist groß.

Für Biden sind seine ersten 100 Tage trotzdem erfolgreich verlaufen. Er kann auf zahlreiche eingelöste Wahlversprechen verweisen. Der wichtigste Teil seines Teams ist in Amt und Würden, große Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht. Ob es jedoch weiterhin so gut für den neuen Präsidenten laufen wird, ist eine andere Frage. Seine Mehrheiten im Kongress erlauben keinerlei Fehler und eine Zusammenarbeit mit den Republikanern wird es auf absehbare Zeit in den wichtigen Fragen kaum geben. Biden ist gut gestartet. Trotzdem kann er noch scheitern.