Mit dem überraschenden Vorziehen der Neuwahl des SPD-Fraktionsvorsitzes hat Amtsinhaberin Andrea Nahles ihren Kritikern offenbar den Wind aus den Segeln genommen. Bis Donnerstag war kein Gegenkandidat in Sicht, nachdem neben Ex-Parteichef Martin Schulz auch der Parteilinke Matthias Miersch klargemacht hatte, dass er nicht antreten werde.

Laut "Bild"-Zeitung verknüpfte Nahles gegenüber Vertrauten beide Ämter miteinander: Demnach wolle sie im Falle einer Niederlage in der Fraktion nicht Parteichefin bleiben. Laut "Bild" (Freitagsausgabe) argumentierte Nahles, ohne Fraktionsvorsitz hätte sie als Parteichefin "keinen Machthebel". Dass es nicht funktioniere, sehe man auch an CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Kein Gegenkandidat

Schulz erklärte in einem am Mittwoch auch auf Twitter veröffentlichten Schreiben an seine Fraktionskollegen, er trete nicht an. Dies habe er Nahles bereits vor zwei Wochen in einem vertraulichen Gespräch gesagt.

Laut Fraktionsvize Karl Lauterbach kündigte bei der Sonderfraktionssitzung am Mittwoch niemand seine Kandidatur gegen Nahles an. "Es ist richtig, dass Andrea Nahles jetzt die Machtfrage stellt", fügte Lauterbach hinzu. "Denn so geht es nicht weiter."

Kritiker sind zurückhaltend

Der Fraktionsvorstand bestätigte mit einem Beschluss das von Nahles am Montag verkündete Vorhaben, die ursprünglich für September erwartete Vorsitzenden-Wahl vorzuziehen. Der als Nahles-Kritiker bekannte Abgeordnete Florian Postlegte der Partei- und Fraktionschefin den Rücktritt nahe. Nach dem schlechten Abschneiden bei der Europawahl "müsste man einsehen, ob man selbst die geeignete Person ist, in der Öffentlichkeit bestimmte Themen zu vertreten", sagte er vor Journalisten. "Da spreche ich von Andrea Nahles."

Juso-Chef Kevin Kühnert äußerte dagegen die Überzeugung, dass sich mit "irgendwelchen schnell mal dahin gehauchten Personalwechseln" nichts zum Besseren wende. Es sei natürlich leichter, "über den Austausch von Köpfen zu sprechen als über tiefgreifende Ursachen dahinter", sagte Kühnert im Nachrichtensender Phoenix. Komme in diesem Jahr nicht das im Koalitionsvertrag vereinbarte Klimaschutzgesetz zustande, stehe für ihn die GroKo auf dem Spiel.

Union fordert SPD zur Entscheidung auf

Derweil forderte CSU-Chef Markus Söder, die SPD müsse rasch über einen weiteren Verbleib in der großen Koalition in Berlin entscheiden. Teile der SPD wollten das Bündnis "innerlich aufkündigen", sagte Söder dem Nachrichtenmagazin "Focus". Die SPD müsse jetzt "ehrlich sagen, wie es weitergeht". Söder betonte, das Ergebnis der Europawahl sei "ein Alarmruf für die große Koalition". Die Partner müssten "für sich jetzt langfristig und nicht nur bis zur nächsten Landtagswahl" klären, ob sie das Bündnis fortsetzen wollten.

Keine Mehrheit bei Probeabstimmung

Nahles hat bei Probeabstimmungen in den drei Parteigruppen allerdings keine Mehrheit bekommen. Sowohl im konservativen Seeheimer Kreis, bei den Netzwerkern und den Parteilinken habe es "nicht annähernd eine Mehrheit für Nahles gegeben", melden die Zeitungen der VRM-Gruppe unter Berufung auf Parteikreise. Es sei deshalb wahrscheinlich, dass sich bis zur festgesetzten Frist am Montag noch Konkurrenten für Nahles melden. Auch wenn Nahles ohne Gegenkandidaten ein sehr schwaches Ergebnis erhalte, sei sie wohl nicht zu halten.

Nach Informationen der Zeitungen gibt es zudem Überlegungen, den im Dezember geplanten Bundesparteitag vorzuziehen und noch vor den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg (1. September) abzuhalten.