Herr Hahn, Sie sind jetzt seit acht Jahren EU-Kommissar in Brüssel. Was macht das Besondere des Ortes aus?
JOHANNES HAHN: Die Internationalität. Es sind ja nicht nur die 28 EU-Staaten, mit denen ich im engeren Sinn täglich zu tun habe, sondern zig andere Nationen, die ihre Vertreter nach Brüssel entsenden. Das ist unvergleichbar. Das gibt es nirgendwo sonst auf der Welt.

Hat Sie der Ort verändert? Was hat Brüssel mit Ihnen gemacht?
Mein Horizont hat sich erweitert. Das hat weniger mit dem Ort als mit meiner Tätigkeit zu tun. Brüssel, die Stadt selbst, kenne ich kaum. Ich bin an die 200 Tage im Jahr unterwegs und überlege mir jedes Mal, wenn ich von meiner Wohnung aufbreche, ob ein Hotel nicht billiger wäre.

EU-Kritiker bezeichnen Brüssel gern als Raumschiff. Sie sind Teil der Brücke. Was ist dran am Vorwurf der Abgehobenheit?
Was Brüssel von jedem anderen Arbeitsplatz unterscheidet, ist, dass sich alle, die hier wirken, bewusst dafür entschieden haben. Und viele hatten ihr Damaskuserlebnis. Sie haben festgestellt, dass Brüssel ja gar kein monolithischer Block ist, sondern aus Menschen aus Fleisch und Blut besteht mit unterschiedlichen Ansichten, Temperamenten und Herangehensweisen. Das alles erzeugt einen ganz eigenen Spirit, der manchmal missverstanden wird.

Inwiefern missverstanden?
Die Leute sind sehr dem europäischen Projekt verbunden. Das sind oft Idealisten, die von den Grundprinzipien der EU zutiefst überzeugt sind. Um falsche Vorstellungen zu korrigieren, ist es vor allem erforderlich, dass man die auf diesen Grundsätzen basierende konkrete Arbeit besser kommuniziert.

Wie würden Sie Ihren Job als EU-Kommissar beschreiben?
Es ist eine Kombination aus Baumeister und Feuerwehrmann. Für Erweiterung zuständig, versuche ich, in unserer Nachbarschaft, am Balkan und an den östlichen und südlichen Rändern, die Dinge voranzutreiben. Oft wird das von Krisen-Bränden durchkreuzt. Dann muss ich als Löschmeister ausrücken und zusehen, dass alles wieder auf gleich kommt und die richtigen Lehren gezogen werden, damit das Feuer nicht neu ausbricht.

Macht Europa es einem gegenwärtig schwer, an es zu glauben?
Ich warne immer davor, Europa zu überhöhen. Es ist ein Zusammenschluss von einzelnen Staaten auf freiwilliger Basis, weil wir der Überzeugung sind, dass das im Interesse aller ist. Durch engste Zusammenarbeit und Verzahnung sollte nach 1945 verhindert werden, dass je wieder Kriege den Kontinent überziehen. Das hat funktioniert, ja, die Gründungsidee ist nach wie vor aktuell, nur dass es heute um sozialen Frieden und die Sicherstellung von Europas Position in der Welt geht. Insofern ist der Slogan des österreichischen EU-Vorsitzes sehr zutreffend. „Ein Europa, das schützt.“

Auch wenn beim Gipfel in Brüssel ein fragiler Konsens erzielt wurde: Kann die EU am Migrationsstreit zerbrechen?
Das wird sie nicht. Ich habe in Brüssel gerade in der Finanzkrise zu viele Gipfel erlebt, die als die letzten Krisentreffen vor dem Zusammenbruch ausgeschildert wurden. Am Ende sind wir aber noch aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen.

Die Kompromissbereitschaft hat aber sichtlich abgenommen.
Das Spannende an Europa besteht zum guten Teil in der hohen Fluktuation des nationalen Führungspersonals. Wenn einer neu kommt, noch dazu aus der Opposition, hat er frische Ideen, muss sich einarbeiten ins Regierungsgeschäft. Die Dinge müssen sich erst einschleifen.

Sie setzen auf den Tsipras-Effekt. Glauben Sie wirklich, dass ein Matteo Salvini durch Einbindung in die EU zum leidlichen Europäer gezähmt werden kann?
Jeder hat seine Lernkurven. Die Finanzkrise hat die politische Landschaft in Europa umgepflügt. Die Union ist ein Stabilitätsanker, eine berechenbare Klammer. Die europäischen Institutionen werden zwar auch alle fünf Jahre neu bestellt, aber sie gewährleisten Kontinuität.

Trotzdem stellt sich die Frage, was schiefgelaufen ist in Europa, dass es so zerstritten ist.
Das hängt sehr oft mit dem Wahlkalender einzelner Länder zusammen. Ich bin ein großer Anhänger der Idee, dass in Europa alle Wahlen zur gleichen Zeit stattfinden. Dann könnten wir uns die restliche Zeit darauf konzentrieren, die in der Tat wichtigen Dinge abzuarbeiten.

Hängt es wirklich nur mit Wahlen zusammen oder erleben wir aktuell nicht dramatische Verschiebungen im Gebälk der EU?
Was ich als Vielreisender nicht erst seit gestern orte, ist, dass wir die große Erweiterung 2004 und die nachfolgenden Beitritte nicht wirklich verarbeitet haben. Wenn sich zwei Firmen zusammentun, besteht die wichtigste Aufgabe darin, die Unternehmenskulturen zusammenzuführen. Das wurde in der Euphorie der damaligen Erweiterungen ausgeblendet. Dazu kommt, dass man die Zuzügler am Anfang als Europäer zweiter Kategorie behandelt hat. Die waren neu, noch nicht so selbstbewusst. Doch die anderen sind ihres Weges gegangen und haben übersehen, dass man zwar die Vielfalt bewahren, aber letztlich doch einen gemeinsamen Modus Vivendi finden muss.

Kann es auch sein, dass es in Ost und West ein unterschiedliches Verständnis davon gibt, was Europa ist und was es sein soll?
In ihren Gründerstaaten ist die Entwicklung der EU identisch mit dem großen Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg, der auch die Boomphase des europäischen Projekts war. Der Zusammenhalt, den der Westen damals entwickelte, wirkt bis heute nach. In unserer DNA ist der Gedanke der Solidarität viel stärker ausgeprägt und der europäische Gedanke viel emotionaler besetzt als in den neuen Mitgliedsstaaten. Dort denkt man sehr viel rationaler und sieht die EU oft und durchaus zu Recht als Möglichkeit, beim Wohlstandsniveau schneller aufzuholen.

Wie soll die EU reagieren, wenn Länder wie Ungarn oder Polen ihren Wertekanon infrage stellen?
Ich plädiere da für Gelassenheit. Man darf diese Dinge nicht durchgehen lassen, aber wir sollten uns bemühen, sie aus der spezifischen Kultur und Geschichte heraus zu verstehen. Das sind Länder, die viele Jahrzehnte keine demokratische Kultur kannten. Da hat Kanzler Sebastian Kurz den richtigen Reflex. Er geht auf den Osten zu. Das ist eine österreichische Qualität. Zu begreifen, dass es kein Schwarz-Weiß gibt, sondern in Europa Vielfalt herrscht. Man muss nicht immer einer Meinung sein. Aber es wichtig, sich andere Meinungen anzuhören.

Österreich ist im Migrationsstreit längst selbst Partei. Glauben Sie wirklich daran, dass es da Brücken bauen kann in Europa?
Das ist Österreichs geschichtliche Bestimmung, die dadurch unterstützt wird, dass wir keinem Block angehören. Man wirft uns oft mit den Deutschen zusammen. Aber das ist falsch. Wir sind nicht bei Visegrád, nicht beim Club Med, nicht bei den Skandinaviern und nicht bei den Beneluxstaaten. Diese Ausgangslage können wir zum Vorteil machen. Als Österreicher tun wir uns leicht mit unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen. Wir tragen das Habsburgererbe in uns, die Fähigkeit zu Toleranz und Kompromiss.

Beides hat die EU bitter nötig. Denn auch in Kerneuropa, in Deutschland, Frankreich, Italien wird die europäische DNA brüchig. Bereitet Ihnen das Sorge?
Ich gehöre der Partei des halbvollen Glases an. Nach dem Brexit ist der Zuspruch zu Europa wieder gestiegen. Die Leute verstehen intuitiv, was sie aufs Spiel setzen, und fühlen, dass sie allein verloren wären. Es ist etwas Urmenschliches, dass man sich in Gemeinschaft sicherer fühlt. Genau das macht in übertragenem Sinn auch Europa aus.

Gehört das zyklisch Krisenhafte sogar zum Projekt Europa?
Ihre Frage verrät Sie als Paradeeuropäer. Wir in Europa neigen dazu, nur das Negative zu sehen. Dabei reden wir ja auch in unserem Privatleben nicht ständig nur von Krisen, nur weil wir mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert sind.

Sie meinen, Europa hat einen freudlosen Blick auf sich selbst?
Es ist, wie wenn man in einem Schlauchboot sitzt und darauf einsticht. Ich werde nie die Augen der Studierenden vergessen, als ich an einer Universität in der Ukraine einmal einen Vortrag gehalten habe. Europa, das ist für diese jungen Leute das Land, in dem Milch und Honig fließen, in dem es garantierte Bürgerrechte gibt, das Paradies. Wir sollten aufhören, uns dauernd kleinzumachen. Schluss mit der Selbstverzwergung! Wir Europäer sollten damit beginnen, uns selbst zu mögen!