Beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel geht es heute um eine gemeinsame Linie bei den Verhandlungen mit London über die Rahmenbedingungen für den Brexit. Aber es geht auch um eine Positionierung gegenüber der Türkei nach der Zuspitzung der politischen Lage im Gefolge des Referendums über die Verfassungsreform von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

In Sachen Brexit sind sich die europäischen Regierungschefs weitgehend einig. Man will sich auf keinen Fall auseinanderdividieren lassen.

In Zusammenhang mit der Türkei kämpft Österreich gegen den Rest der Welt, was die Beitrittsverhandlungen betrifft. Auch andere Länder sehen die Türkei derzeit natürlich nicht in der EU, aber für einen Stopp der Gespräche, womit neue Fakten geschaffen würden, sprach sich bislang nur Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) aus. Deutschlands Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) unterstellte dem österreichischen Amtskollegen innenpolitische Motive.

Argumente für einen Abbruch der Verhandlungen:

  • Nach einhelliger Meinung verstößt die türkische Regierung bei ihrem Vorgehen gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung  massiv gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Mittlerweile wird sogar über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert.
  • Der nach dem Verfassungsreferendum bevorstehende Staatsumbau dürfte die Türkei nach weiter von Europa entfernen. Die geplanten Änderungen könnten  die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz einschränken.
  • Wenn die Türkei damals in einem Zustand wie heute gewesen wäre, hätte die EU die Beitrittsgespräche 2005 nie begonnen. Insofern wäre es durchaus erklärbar, sie jetzt zu stoppen.
  • Die EU würde Rechtsextremen und Populisten den Wind aus den Segeln nehmen, die schon immer gegen einen EU-Beitritt waren. Sie argumentieren, die Türkei könne weder kulturell noch geografisch zu Europa gezählt werden.
  • Abbruch-Befürworter sind der Meinung, dass die EU letztlich am längeren Hebel sitze und keine Sanktionen seitens der Türkei fürchten müsse. "Wir sind gegenüber der Türkei kein Bittsteller, wir sind einer der größten Investoren, der türkische Tourismus hängt an uns und was man nicht vergessen darf, der Westen finanziert das Leistungsdefizit der Türkei", sagt Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ).

Argumente gegen einen Abbruch der Verhandlungen:

  • Viele Gegner eines Verhandlungsabbruchs verweisen darauf, dass es in der Türkei Millionen Menschen gibt, die die europäischen Werte teilen und die beim Referendum zum Staatsumbau mit "Nein" gestimmt haben.
  • Andere Abbruchgegner sind der Meinung, dass die Türkei durchaus Drohpotenzial hat. Präsident Erdogan dürfte einen einseitigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen trotz seines selbstbewussten Auftretens als Schlag ins Gesicht wahrnehmen. Niemand kann ausschließen, dass er dann zum Beispiel den Flüchtlingspakt mit der EU platzen lässt.
  • Erdogan könnte den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Syrien und im Irak erschweren, indem er der internationalen Anti-IS-Koalition die Nutzung der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik für Angriffe untersagt. Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen könnte das Land in Richtung Russland treiben.
  • Die Beitrittsverhandlungen geben der EU die Möglichkeit, Kritik an den Verhältnissen in der Türkei zu äußern und Druck auszuüben.

Für die EU könnte es strategisch klüger sein abzuwarten, ob sich das Problem nicht von selbst löst - durch einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen durch die Türkei. Erdogan selber hat mehrfach ein Referendum darüber ins Spiel gebracht.