50 Minuten lang kämpften die Ärzte vergeblich um Jitzchak Rabins Leben. Die zwei selbstgebastelten Dumdumgeschosse, die der junge jüdische Extremist Yigal Amir bei einer großen Friedenskundgebung in Tel Aviv auf den israelischen Ministerpräsidenten abgefeuert hatte, hatten beide Lungenflügel und die Milz zerfetzt. Der Held des Sechstagekriegs, der nach seinen Verhandlungen mit PLO-Chef Jassir Arafat zum großen Hoffnungsträger des Friedensprozesses in der Region geworden war, erlag kurz vor Mitternacht seinen schweren Verletzungen.

Mit Jitzchak Rabin starb am 4. November 1995 auch der bis dahin vielversprechendste Versuch, durch eine Zweistaatenlösung eine dauerhafte Aussöhnung zwischen Israel und den Palästinensern zu erreichen. Rabins Nachfolger Benjamin Netanjahu fühlte sich nicht mehr an die Vereinbarungen des wegweisenden Osloer Abkommens, das einen sukzessiven Rückzug Israels aus den 1967 eroberten Gebieten vorsah, gebunden. Im Westjordanland schossen neue israelische Siedlungen aus dem Boden, die gescheiterten Camp-David-II-Verhandlungen im Jahr 2000 und der darauffolgende Ausbruch der zweiten Intifada begruben die vorsichtigen Hoffnungen auf eine Lösung des Nahostkonflikts endgültig.

„Zweistaatenlösung absurd“

Von einem eigenständigen Palästinenserstaat neben Israel wollen Netanjahu und seine Regierung auch heute nichts wissen. „Es ist absolut absurd, dass man nach alldem, was passiert ist, heute Israel vorschreibt, dass eine Zweistaatenlösung das Richtige ist“, sagte Außenminister Israel Katz in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Politico“.

Genauso vehement abgelehnt wird eine Zweistaatenlösung aber auch von der Hamas, die seit 2007 im Gazastreifen herrscht. Die radikalislamische Palästinenserorganisation, die Israel das Existenzrecht abspricht, sieht nur einen gangbaren Weg: Der von ihr angestrebte Palästinenserstaat soll vom Jordan bis zum Mittelmeer reichen und damit auch das Gebiet des jüdischen Staates umfassen.

Das Massaker an mehr als 1200 Israelis durch Hamas-Terrorkommandos und der darauffolgende israelische Militäreinsatz haben die Karten im Nahen Osten aber zumindest ein Stück weit neu gemischt. Angetrieben vom Entsetzen über den Horror des 7. Oktober und den Bildern, die jeden Tag die Zerstörung und das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen dokumentieren, ist das internationale Drängen auf eine Zweistaatenlösung so stark wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. So kommt der Druck nicht nur aus den USA, wo Präsident Joe Biden in seinen Gesprächen mit Netanjahu immer wieder Kompromissbereitschaft einfordert, oder aus Großbritannien, das sich zunehmend bereit zeigt, frühzeitig einen unabhängigen Palästinenserstaat anzuerkennen. Auch die in der Vergangenheit eher zurückhaltenden EU-Mitglieder und die arabischen Staaten verlangen von den Konfliktparteien immer offensiver einen Kurswechsel. Die Zweistaatenlösung sei der „einzige Weg“, sagt der EU-Außenbeauftragte Josep Borell. Er sei entschlossen, diesen zu gehen, ganz gleich, ob Israel sich daran beteilige oder nicht.

Die ungelöste Frage des Wies

Die Führungsrolle übernehmen derzeit aber Irland, Spanien und das nicht zur EU gehörende Norwegen. Die drei Staaten haben am Mittwoch angekündigt, die Palästinensergebiete mit 28. Mai als unabhängigen Staat anerkennen zu wollen. „Die Palästinenser haben ein grundlegendes, unabhängiges Recht auf einen eigenen Staat. Sowohl Israelis als auch Palästinenser haben das Recht, in Frieden in getrennten Staaten zu leben. Es kann keinen Frieden im Nahen Osten ohne eine Zweistaatenlösung geben“, heißt es von Seiten der norwegischen Regierung. Die drei Länder rechnen auch damit, dass sich in den kommenden Tagen noch weitere Länder anschließen werden.

Das neue Momentum allein löst freilich nicht die seit Jahrzehnten bestehende Frage des Wies. Weitgehenden Konsens gibt es sowohl im Westen als auch im arabischen Raum darüber, dass die Hamas bei der Schaffung eines zukünftigen Palästinenserstaates keine tragende Rolle spielen darf und die moderatere PLO-dominierte Palästinensische Autonomiebehörde gestärkt werden muss. Doch ansonsten sind die Probleme der Vergangenheit auch die Probleme der Zukunft. In den von Israel seit dem Sechstagekrieg besetzen Gebieten gibt es mittlerweile so viele jüdische Siedlungen, dass eine Grenzziehung, wie sie im Osloer Abkommen vorgesehen ist, praktisch kaum noch umsetzbar ist. Dazu kommen die ungelösten Fragen über den Status von Jerusalem, das sowohl Israelis als auch Palästinenser als Hauptstadt beanspruchen, und über die Rückkehr von Millionen palästinensischer Flüchtlinge.

„Vertrauen fehlt komplett“

Als größtes Hindernis sieht Peter Lintl, Nahostexperte bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik, aber das derzeit völlig fehlende Vertrauen zwischen Israel und den Palästinensern an. „Laut Umfragen vom Februar unterstützen 80 Prozent im Westjordanland die Hamas und knapp 70 Prozent der Israelis sind gegen humanitäre Hilfe für Gaza, solange die Hamas noch israelische Geiseln hält“, sagt Lintl zur Kleinen Zeitung. „Weiter entfernt als derzeit kann man eigentlich nicht sein.“

Nach knapp acht Monaten Krieg ist mittlerweile aber auch nicht mehr klar, ob die USA als Israels wichtigster Verbündeter überhaupt noch einen Hebel haben, um auf Premier Benjamin Netanjahu einwirken zu können. Bisher hat sich der 74-Jährige weder vom angedrohten Stopp der US-Waffenlieferung beeindrucken lassen noch vom Verzicht der USA auf ihre Vetomöglichkeit im UN-Sicherheitsrat, als dort Ende März eine „sofortige Waffenruhe“ gefordert wurde. Und ob die USA bereit wären, noch weiter zu gehen, ist aus Sicht des Nahostexperten fraglich. „Die Amerikaner wollen das Bündnis mit Israel eigentlich nicht aufkündigen“, sagt Lintl. „Und wenn etwas vorangehen soll, braucht es wahrscheinlich auch eine andere Regierung in Israel.“

Wahrscheinlicher als Fortschritte bei der Zweistaatenlösung scheint derzeit aber ohnehin ein anderes Szenario. Wenn sich nach einem Sieg über die Hamas keine Staatengruppe findet, die bereit ist, Schutz- und Friedenstruppen nach Gaza zu schicken, bleiben Israel wenig andere Optionen als das Gebiet für längere Zeit militärisch besetzt zu halten. Die Regierung in Jerusalem müsste dann aber auch zivile Verwaltungsstrukturen aufbauen, die die Kontrolle über den schmalen Küstenstreifen wohl auf lange Zeit verfestigen. Knapp 30 Jahre nach Rabins Ermordung wäre die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung damit wieder für Jahrzehnte begraben.